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›Sophie‹, sagte er mit rührender Stimme zu der
Frau, ›laß mich aus der Schale trinken.‹ Sie
reichte sie ihm ohne Anstand, und er konnte nicht
aufhören zu trinken, indem die Schale sich immer
voll zu erhalten schien. Endlich gab er sie
zurück, indem er die edle Frau innig umarmte. Er
herzte Ginnistan, und bat sie um das bunte Tuch,
das er sich anständig um die Hüften band. Die
kleine Fabel nahm er auf den Arm. Sie schien
unendliches Wohlgefallen an ihm zu haben, und fing
zu plaudern an. Ginnistan machte sich viel um ihn
zu schaffen. Sie sah äußerst reizend und
leichtfertig aus, und drückte ihn mit der
Innigkeit einer Braut an sich. Sie zog ihn mit
heimlichen Worten nach der Kammertür, aber Sophie
winkte ernsthaft und deutete nach der Schlange; da
kam die Mutter herein, auf die er sogleich zuflog
und sie mit heißen Tränen bewillkommte. Der
Schreiber war ingrimmig fortgegangen. Der Vater
trat herein, und wie er Mutter und Sohn in stiller
Umarmung sah, trat er hinter ihren Rücken zur
reizenden Ginnistan, und liebkoste ihr. Sophie
stieg die Treppe hinauf. Die kleine Fabel nahm die
Feder des Schreibers und fing zu schreiben an.
Mutter und Sohn vertieften sich in ein leises
Gespräch, und der Vater schlich sich mit Ginnistan
in die Kammer, um sich von den Geschäften des Tags
in ihren Armen zu erholen. Nach geraumer Zeit kam
Sophie zurück. Der Schreiber trat herein. Der
Vater kam aus der Kammer und ging an seine
Geschäfte. Ginnistan kam mit glühenden Wangen
zurück. Der Schreiber jagte die kleine Fabel mit
vielen Schmähungen von seinem Sitze, und hatte
einige Zeit nötig seine Sachen in Ordnung zu
bringen. Er reichte Sophien die von Fabel
vollgeschriebenen Blätter, um sie rein zurück zu
erhalten, geriet aber bald in den äußersten
Unwillen, wie Sophie die Schrift völlig glänzend
und unversehrt aus der Schale zog und sie ihm
hinlegte. Fabel schmiegte sich an ihre Mutter, die
sie an die Brust nahm, und das Zimmer aufputzte,
die Fenster öffnete, frische Luft hereinließ und
Zubereitungen zu einem köstlichen Mahle machte.
Man sah durch die Fenster die herrlichsten
Aussichten und einen heitern Himmel über die Erde
gespannt. Auf dem Hofe war der Vater in voller
Tätigkeit. Wenn er müde war, sah er hinauf ans
Fenster, wo Ginnistan stand, und ihm allerhand
Näschereien herunterwarf. Die Mutter und der Sohn
gingen hinaus, um überall zu helfen und den
gefaßten Entschluß vorzubereiten. Der Schreiber
rührte die Feder, und machte immer eine Fratze,
wenn er genötigt war, Ginnistan um etwas zu
fragen, die ein sehr gutes Gedächtnis hatte, und
alles behielt, was sich zutrug. Eros kam bald in
schöner Rüstung, um die das bunte Tuch wie eine
Schärpe gebunden war, zurück, und bat Sophie um
Rat, wann und wie er seine Reise antreten solle.
Der Schreiber war vorlaut, und wollte gleich mit
einem ausführlichen Reiseplan dienen, aber seine
Vorschläge wurden überhört. ›Du kannst sogleich
reisen; Ginnistan mag dich begleiten‹, sagte
Sophie; ›sie weiß mit den Wegen Bescheid, und ist
überall gut bekannt. Sie wird die Gestalt deiner
Mutter annehmen, um dich nicht in Versuchung zu
führen. Findest du den König, so denke an mich;
dann komme ich um dir zu helfen.‹
(RUB 8939, S. 127–128)
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