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Große und vielfache Begebenheiten würden sie
stören. Ein einfaches Leben ist ihr Los, und nur
aus Erzählungen und Schriften müssen sie mit dem
reichen Inhalt, und den zahllosen Erscheinungen
der Welt bekannt werden. Nur selten darf im
Verlauf ihres Lebens ein Vorfall sie auf einige
Zeit in seine raschen Wirbel mit hereinziehn, um
durch einige Erfahrungen sie von der Lage und dem
Charakter der handelnden Menschen genauer zu
unterrichten. Dagegen wird ihr empfindlicher Sinn
schon genug von nahen unbedeutenden Erscheinungen
beschäftigt, die ihm jene große Welt verjüngt
darstellen, und sie werden keinen Schritt tun,
ohne die überraschendsten Entdeckungen in sich
selbst über das Wesen und die Bedeutung derselben
zu machen. Es sind die Dichter, diese seltenen
Zugmenschen, die zuweilen durch unsere Wohnsitze
wandeln, und überall den alten ehrwürdigen Dienst
der Menschheit und ihrer ersten Götter, der
Gestirne, des Frühlings, der Liebe, des Glücks,
der Fruchtbarkeit, der Gesundheit, und des
Frohsinns erneuern; sie, die schon hier im Besitz
der himmlischen Ruhe sind, und von keinen
törichten Begierden umhergetrieben, nur den Duft
der irdischen Früchte einatmen, ohne sie zu
verzehren und dann unwiderruflich an die Unterwelt
gekettet zu sein. Freie Gäste sind sie, deren
goldener Fuß nur leise auftritt, und deren
Gegenwart in allen unwillkürlich die Flügel
ausbreitet. Ein Dichter läßt sich wie ein guter
König, frohen und klaren Gesichtern nach
aufsuchen, und er ist es, der allein den Namen
eines Weisen mit Recht führt. Wenn man ihn mit dem
Helden vergleicht, so findet man, daß die Gesänge
der Dichter nicht selten den Heldenmut in
jugendlichen Herzen erweckt, Heldentaten aber wohl
nie den Geist der Poesie in ein neues Gemüt
gerufen haben.
(RUB 8939, S. 93–94)
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