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»Ihr habt wohl meinen Gesang gehört«, sagte sie
freundlich. »Euer Gesicht dünkt mir bekannt, laßt
mich besinnen – Mein Gedächtnis ist schwach
geworden, aber Euer Anblick erweckt in mir eine
sonderbare Erinnerung aus frohen Zeiten. O! mir
ist, als glicht Ihr einem meiner Brüder, der noch
vor unserm Unglück von uns schied, und nach
Persien zu einem berühmten Dichter zog. Vielleicht
lebt er noch, und besingt traurig das Unglück
seiner Geschwister. Wüßt ich nur noch einige
seiner herrlichen Lieder, die er uns hinterließ!
Er war edel und zärtlich, und kannte kein größeres
Glück als seine Laute.« Das Kind war ein Mädchen
von zehn bis zwölf Jahren, das den fremden
Jüngling aufmerksam betrachtete und sich fest an
den Busen der unglücklichen Zulima schmiegte.
Heinrichs Herz war von Mitleid durchdrungen; er
tröstete die Sängerin mit freundlichen Worten, und
bat sie, ihm umständlicher ihre Geschichte zu
erzählen. Sie schien es nicht ungern zu tun.
Heinrich setzte sich ihr gegenüber und vernahm
ihre von häufigen Tränen unterbrochne Erzählung.
Vorzüglich hielt sie sich bei dem Lobe ihrer
Landsleute und ihres Vaterlandes auf. Sie
schilderte den Edelmut derselben, und ihre reine
starke Empfänglichkeit für die Poesie des Lebens
und die wunderbare, geheimnisvolle Anmut der
Natur. Sie beschrieb die romantischen Schönheiten
der fruchtbaren arabischen Gegenden, die wie
glückliche Inseln in unwegsamen Sandwüsteneien
lägen, wie Zufluchtsstätte der Bedrängten und
Ruhebedürftigen, wie Kolonien des Paradieses, voll
frischer Quellen, die über dichten Rasen und
funkelnde Steine durch alte, ehrwürdige Haine
rieselten, voll bunter Vögel mit melodischen
Kehlen und anziehend durch mannigfaltige
Überbleibsel ehemaliger denkwürdiger Zeiten. »Ihr
würdet mit Verwunderung«, sagte sie, »die
buntfarbigen, hellen, seltsamen Züge und Bilder
auf den alten Steinplatten sehn. Sie scheinen so
bekannt und nicht ohne Ursach so wohl erhalten zu
sein. Man sinnt und sinnt, einzelne Bedeutungen
ahnet man, und wird um so begieriger den
tiefsinnigen Zusammenhang dieser uralten Schrift
zu erraten. Der unbekannte Geist derselben erregt
ein ungewöhnliches Nachdenken, und wenn man auch
ohne den gewünschten Fund von dannen geht, so hat
man doch tausend merkwürdige Entdeckungen in sich
selbst gemacht, die dem Leben einen neuen Glanz
und dem Gemüt eine lange, belohnende Beschäftigung
geben. Das Leben auf einem längst bewohnten und
ehemals schon durch Fleiß, Tätigkeit und Neigung
verherrlichten Boden hat einen besondern Reiz. Die
Natur scheint dort menschlicher und verständlicher
geworden, eine dunkle Erinnerung unter der
durchsichtigen Gegenwart wirft die Bilder der Welt
mit scharfen Umrissen zurück, und so genießt man
eine doppelte Welt, die eben dadurch das Schwere
und Gewaltsame verliert und die zauberische
Dichtung und Fabel unserer Sinne wird. Wer weiß,
ob nicht auch ein unbegreiflicher Einfluß der
ehemaligen, jetzt unsichtbaren Bewohner mit ins
Spiel kommt, und vielleicht ist es dieser dunkle
Zug, der die Menschen aus neuen Gegenden, sobald
eine gewisse Zeit ihres Erwachens kömmt, mit so
zerstörender Ungeduld nach der alten Heimat ihres
Geschlechts treibt, und sie Gut und Blut an den
Besitz dieser Länder zu wagen anregt.« Nach einer
Pause fuhr sie fort: »Glaubt ja nicht, was man
euch von den Grausamkeiten meiner Landsleute
erzählt hat. Nirgends wurden Gefangene großmütiger
behandelt, und auch eure Pilger nach Jerusalem
wurden mit Gastfreundschaft aufgenommen, nur daß
sie selten derselben wert waren. Die meisten waren
nichtsnutzige, böse Menschen, die ihre Wallfahrten
mit Bubenstücken bezeichneten, und dadurch
freilich oft gerechter Rache in die Hände fielen.
Wie ruhig hätten die Christen das Heilige Grab
besuchen können, ohne nötig zu haben, einen
fürchterlichen, unnützen Krieg anzufangen, der
alles erbittert, unendliches Elend verbreitet, und
auf immer das Morgenland von Europa getrennt hat.
Was lag an dem Namen des Besitzers? Unsere Fürsten
ehrten andachtsvoll das Grab eures Heiligen, den
auch wir für einen göttlichen Propheten halten;
und wie schön hätte sein heiliges Grab die Wiege
eines glücklichen Einverständnisses, der Anlaß
ewiger wohltätiger Bündnisse werden können!«
(RUB 8939, S. 57–59)
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