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Unterdes war man am Hofe in große Bestürzung
geraten, als abends die Prinzessin vermißt wurde.
Der König war ganz außer sich, und schickte
überall Leute aus, sie zu suchen. Kein Mensch
wußte sich ihr Verschwinden zu erklären. Keinem
kam ein heimliches Liebesverständnis in die
Gedanken, und so ahndete man keine Entführung, da
ohnedies kein Mensch weiter fehlte. Auch nicht zu
der entferntesten Vermutung war Grund da. Die
ausgeschickten Boten kamen unverrichteter Sache
zurück, und der König fiel in tiefe Traurigkeit.
Nur wenn abends seine Sänger vor ihn kamen und
schöne Lieder mitbrachten, war es, als ließe sich
die alte Freude wieder vor ihm blicken; seine
Tochter dünkte ihm nah, und er schöpfte Hoffnung,
sie bald wieder zu sehen. War er aber wieder allein,
so zerriß es ihm von neuem das Herz und er weinte
laut. Dann gedachte er bei sich selbst: Was hilft
mir nun alle die Herrlichkeit, und meine hohe
Geburt? Nun bin ich doch elender als die andern
Menschen. Meine Tochter kann mir nichts ersetzen.
Ohne sie sind auch die Gesänge nichts, als leere
Worte und Blendwerk. Sie war der Zauber, der ihnen
Leben und Freude, Macht und Gestalt gab. Wollt
ich doch lieber, ich wäre der geringste meiner
Diener. Dann hätte ich meine Tochter noch; auch
wohl einen Eidam dazu und Enkel, die mir auf den
Knieen säßen: dann wäre ich ein anderer König, als
jetzt. Es ist nicht die Krone und das Reich, was
einen König macht. Es ist jenes volle,
überfließende Gefühl der Glückseligkeit, der
Sättigung mit irdischen Gütern, jenes Gefühl der
überschwenglichen Gnüge. So werd ich nun für
meinen Übermut bestraft. Der Verlust meiner Gattin
hat mich noch nicht genug erschüttert. Nun hab
ich auch ein grenzenloses Elend. So klagte der
König in den Stunden der heißesten Sehnsucht.
Zuweilen brach auch seine alte Strenge und sein
Stolz wieder hervor. Er zürnte über seine Klagen;
wie ein König wollte er dulden und schweigen. Er
meinte dann, er leide mehr, als alle anderen, und
gehöre ein großer Schmerz zum Königtum; aber wenn
es dann dämmerte, und er in die Zimmer seiner
Tochter trat, und sah ihre Kleider hängen, und
ihre kleinern Habseligkeiten stehn, als habe sie
eben das Zimmer verlassen: so vergaß er seine
Vorsätze, gebärdete sich wie ein trübseliger
Mensch, und rief seine geringsten Diener um
Mitleid an. Die ganze Stadt und das ganze Land
weinten und klagten von ganzem Herzen mit ihm.
Sonderlich war es, daß eine Sage umherging, die
Prinzessin lebe noch, und werde bald mit einem
Gemahl wiederkommen. Kein Mensch wußte, woher die
Sage kam: aber alles hing sich mit frohem Glauben
daran, und sah mit ungeduldiger Erwartung ihrer
baldigen Wiederkunft entgegen. So vergingen
mehrere Monden, bis das Frühjahr wieder herankam.
›Was gilts‹, sagten einige in wunderlichem Mute,
›nun kommt auch die Prinzessin wieder.‹ Selbst der
König ward heitrer und hoffnungsvoller. Die Sage
dünkte ihm wie die Verheißung einer gütigen Macht.
Die ehemaligen Feste fingen wieder an, und es
schien zum völligen Aufblühen der alten
Herrlichkeit nur noch die Prinzessin zu fehlen.
Eines Abends, da es gerade jährig wurde, daß sie
verschwand, war der ganze Hof im Garten
versammelt. Die Luft war warm und heiter; ein
leiser Wind tönte nur oben in den alten Wipfeln,
wie die Ankündigung eines fernen fröhlichen Zuges.
Ein mächtiger Springquell stieg zwischen den
vielen Fackeln mit zahllosen Lichtern hinauf in
die Dunkelheit der tönenden Wipfel, und begleitete
mit melodischem Plätschern die mannigfaltigen
Gesänge, die unter den Bäumen hervorklangen. Der
König saß auf einem köstlichen Teppich, und um ihn
her war der Hof in festlichen Kleidern versammelt.
Eine zahlreiche Menge erfüllte den Garten, und
umgab das prachtvolle Schauspiel. Der König saß
eben in tiefen Gedanken. Das Bild seiner verlornen
Tochter stand mit ungewöhnlicher Klarheit vor ihm;
er gedachte der glücklichen Tage, die um diese
Zeit im vergangenen Jahre ein plötzliches Ende
nahmen. Eine heiße Sehnsucht übermannte ihn, und
es flossen häufige Tränen von seinen ehrwürdigen
Wangen; doch empfand er eine ungewöhnliche
Heiterkeit. Es dünkte ihm das traurige Jahr nur
ein schwerer Traum zu sein, und er hob die Augen
auf, gleichsam um ihre hohe, heilige, entzückende
Gestalt unter den Menschen und den Bäumen
aufzusuchen. Eben hatten die Dichter geendigt, und
eine tiefe Stille schien das Zeichen der
allgemeinen Rührung zu sein, denn die Dichter
hatten die Freuden des Wiedersehns, den Frühling
und die Zukunft besungen, wie sie die Hoffnung zu
schmücken pflegt.
(RUB 8939, S. 42–44)
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