[35. Absatz]
Sie dankte dem Jünglinge noch einmal mit
ungewöhnlicher Innigkeit, und ging hierauf langsam,
ohne sich umzusehen, zurück. Der Jüngling konnte
kein Wort vorbringen. Er neigte sich
ehrfurchtsvoll und sah ihr lange nach, bis sie
hinter den Bäumen verschwand. Nach dieser Zeit
vergingen wenig Tage bis zu ihrem zweiten Besuche,
dem bald mehrere folgten. Der Jüngling ward
unvermerkt ihr Begleiter bei diesen Spaziergängen.
Er holte sie zu bestimmten Stunden am Garten ab,
und brachte sie dahin zurück. Sie beobachtete ein
unverbrüchliches Stillschweigen über ihren Stand,
so zutraulich sie auch sonst gegen ihren Begleiter
wurde, dem bald kein Gedanke in ihrer himmlischen
Seele verborgen blieb. Es war, als flößte ihr die
Erhabenheit ihrer Herkunft eine geheime Furcht
ein. Der Jüngling gab ihr ebenfalls seine ganze
Seele. Vater und Sohn hielten sie für ein
vornehmes Mädchen vom Hofe. Sie hing an dem Alten
mit der Zärtlichkeit einer Tochter. Ihre
Liebkosungen gegen ihn waren die entzückenden
Vorboten ihrer Zärtlichkeit gegen den Jüngling.
Sie ward bald einheimisch in dem wunderbaren
Hause; und wenn sie dem Alten und dem Sohne, der
zu ihren Füßen saß, auf ihrer Laute reizende
Lieder mit einer überirdischen Stimme vorsang, und
letzteren in dieser lieblichen Kunst
unterrichtete: so erfuhr sie dagegen von seinen
begeisterten Lippen die Enträtselung der überall
verbreiteten Naturgeheimnisse. Er lehrte ihr, wie
durch wundervolle Sympathie die Welt entstanden
sei, und die Gestirne sich zu melodischen Reigen
vereinigt hätten. Die Geschichte der Vorwelt ging
durch seine heiligen Erzählungen in ihrem Gemüt
auf; und wie entzückt war sie, wenn ihr Schüler,
in der Fülle seiner Eingebungen, die Laute ergriff
und mit unglaublicher Gelehrigkeit in die
wundervollsten Gesänge ausbrach. Eines Tages, wo
ein besonders kühner Schwung sich seiner Seele in
ihrer Gesellschaft bemächtigt hatte, und die
mächtige Liebe auf dem Rückwege ihre jungfräuliche
Zurückhaltung mehr als gewöhnlich überwand, so daß
sie beide ohne selbst zu wissen wie einander in
die Arme sanken, und der erste glühende Kuß sie
auf ewig zusammenschmelzte, fing mit einbrechender
Dämmerung ein gewaltiger Sturm in den Gipfeln der
Bäume plötzlich zu toben an. Drohende Wetterwolken
zogen mit tiefem nächtlichen Dunkel über sie her.
Er eilte sie in Sicherheit vor dem fürchterlichen
Ungewitter und den brechenden Bäumen zu bringen:
aber er verfehlte in der Nacht und voll Angst
wegen seiner Geliebten den Weg, und geriet immer
tiefer in den Wald hinein. Seine Angst wuchs, wie
er seinen Irrtum bemerkte. Die Prinzessin dachte
an das Schrecken des Königs und des Hofes; eine
unnennbare Ängstlichkeit fuhr zuweilen, wie ein
zerstörender Strahl, durch ihre Seele, und nur die
Stimme ihres Geliebten, der ihr unaufhörlich Trost
zusprach, gab ihr Mut und Zutrauen zurück, und
erleichterte ihre beklommne Brust. Der Sturm
wütete fort; alle Bemühungen den Weg zu finden
waren vergeblich, und sie priesen sich beide
glücklich, bei der Erleuchtung eines Blitzes eine
nahe Höhle an dem steilen Abhang eines waldigen
Hügels zu entdecken, wo sie eine sichere Zuflucht
gegen die Gefahren des Ungewitters zu finden
hofften, und eine Ruhestätte für ihre erschöpften
Kräfte. Das Glück begünstigte ihre Wünsche. Die
Höhle war trocken und mit reinlichem Moose
bewachsen. Der Jüngling zündete schnell ein Feuer
von Reisern und Moos an, woran sie sich trocknen
konnten, und die beiden Liebenden sahen sich nun
auf eine wunderbare Weise von der Welt entfernt,
aus einem gefahrvollen Zustande gerettet, und auf
einem bequemen, warmen Lager allein nebeneinander.
(RUB 8939, S. 39–41)
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