Drittes Kapitel
[28. Absatz]
»Eine andere Geschichte«, fuhren die Kaufleute nach
einer Pause fort, »die freilich nicht so wunderbar
und auch aus spätern Zeiten ist, wird Euch
vielleicht doch gefallen, und Euch mit den
Wirkungen jener wunderbaren Kunst noch bekannter
machen. Ein alter König hielt einen glänzenden
Hof. Weit und breit strömten Menschen herzu, um
teil an der Herrlichkeit seines Lebens zu haben,
und es gebrach weder den täglichen Festen an
Überfluß köstlicher Waren des Gaumes, noch an
Musik, prächtigen Verzierungen und Trachten, und
tausend abwechselnden Schauspielen und
Zeitvertreiben, noch endlich an sinnreicher
Anordnung, an klugen, gefälligen, und
unterrichteten Männern zur Unterhaltung und
Beseelung der Gespräche, und an schöner, anmutiger
Jugend von beiden Geschlechtern, die die
eigentliche Seele reizender Feste ausmachen. Der
alte König, der sonst ein strenger und ernster
Mann war, hatte zwei Neigungen, die der wahre
Anlaß dieser prächtigen Hofhaltung waren, und
denen sie ihre schöne Einrichtung zu danken hatte.
Eine war die Zärtlichkeit für seine Tochter, die
ihm als Andenken seiner früh verstorbenen Gemahlin
und als ein unaussprechlich liebenswürdiges
Mädchen unendlich teuer war, und für die er gern
alle Schätze der Natur und alle Macht des
menschlichen Geistes aufgeboten hätte, um ihr
einen Himmel auf Erden zu verschaffen. Die andere
war eine wahre Leidenschaft für die Dichtkunst und
ihre Meister. Er hatte von Jugend auf die Werke
der Dichter mit innigem Vergnügen gelesen; an ihre
Sammlung aus allen Sprachen großen Fleiß und große
Summen gewendet, und von jeher den Umgang der
Sänger über alles geschätzt. Von allen Enden zog
er sie an seinen Hof und überhäufte sie mit Ehren.
Er ward nicht müde, ihren Gesängen zuzuhören, und
vergaß oft die wichtigsten Angelegenheiten, ja die
Bedürfnisse des Lebens über einem neuen,
hinreißenden Gesange. Seine Tochter war unter
Gesängen aufgewachsen, und ihre ganze Seele war
ein zartes Lied geworden, ein einfacher Ausdruck
der Wehmut und Sehnsucht. Der wohltätige Einfluß
der beschützten und geehrten Dichter zeigte sich
im ganzen Lande, besonders aber am Hofe. Man genoß
das Leben mit langsamen, kleinen Zügen wie einen
köstlichen Trank, und mit desto reinerem
Wohlbehagen, da alle widrige gehässige
Leidenschaften, wie Mißtöne von der sanften
harmonischen Stimmung verscheucht wurden, die in
allen Gemütern herrschend war. Frieden der Seele
und innres seliges Anschauen einer selbst
geschaffenen, glücklichen Welt war das Eigentum
dieser wunderbaren Zeit geworden, und die
Zwietracht erschien nur in den alten Sagen der
Dichter, als eine ehmalige Feindin der Menschen.
Es schien, als hätten die Geister des Gesanges
ihrem Beschützer kein lieblicheres Zeichen der
Dankbarkeit geben können, als seine Tochter, die
alles besaß, was die süßeste Einbildungskraft nur
in der zarten Gestalt eines Mädchens vereinigen
konnte. Wenn man sie an den schönen Festen unter
einer Schar reizender Gespielen, im weißen
glänzenden Gewande erblickte, wie sie den
Wettgesängen der begeisterten Sänger mit tiefem
Lauschen zuhörte, und errötend einen duftenden
Kranz auf die Locken des Glücklichen drückte,
dessen Lied den Preis gewonnen hatte: so hielt man
sie für die sichtbare Seele jener herrlichen
Kunst, die jene Zaubersprüche beschworen hätten,
und hörte auf sich über die Entzückungen und
Melodien der Dichter zu wundern.
(RUB 8939, S. 31–32)
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