[27. Absatz]
In alten Zeiten muß die ganze Natur lebendiger und
sinnvoller gewesen sein, als heutzutage. Wirkungen,
die jetzt kaum noch die Tiere zu bemerken
scheinen, und die Menschen eigentlich allein noch
empfinden und genießen, bewegten damals leblose
Körper; und so war es möglich, daß kunstreiche
Menschen allein Dinge möglich machten und
Erscheinungen hervorbrachten, die uns jetzt völlig
unglaublich und fabelhaft dünken. So sollen vor
uralten Zeiten in den Ländern des jetzigen
griechischen Kaisertums, wie uns Reisende
berichtet, die diese Sagen noch dort unter dem
gemeinen Volke angetroffen haben, Dichter gewesen
sein, die durch den seltsamen Klang wunderbarer
Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den
Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten,
verödeten Gegenden den toten Pflanzensamen erregt,
und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Tiere
gezähmt und verwilderte Menschen zu Ordnung und
Sitte gewöhnt, sanfte Neigungen und Künste des
Friedens in ihnen rege gemacht, reißende Flüsse in
milde Gewässer verwandelt, und selbst die totesten
Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen
hingerissen haben. Sie sollen zugleich Wahrsager
und Priester, Gesetzgeber und Ärzte gewesen sein,
indem selbst die höhern Wesen durch ihre
zauberische Kunst herabgezogen worden sind, und
sie in den Geheimnissen der Zukunft unterrichtet,
das Ebenmaß und die natürliche Einrichtung aller
Dinge, auch die innern Tugenden und Heilkräfte der
Zahlen, Gewächse und aller Kreaturen, ihnen
offenbart. Seitdem sollen, wie die Sage lautet,
erst die mannigfaltigen Töne und die sonderbaren
Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen
sein, indem vorher alles wild, unordentlich und
feindselig gewesen ist. Seltsam ist nur hiebei,
daß zwar diese schönen Spuren, zum Andenken der
Gegenwart jener wohltätigen Menschen, geblieben
sind, aber entweder ihre Kunst, oder jene zarte
Gefühligkeit der Natur verloren gegangen ist. In
diesen Zeiten hat es sich unter andern einmal
zugetragen, daß einer jener sonderbaren Dichter
oder mehr Tonkünstler – wiewohl die Musik und
Poesie wohl ziemlich eins sein mögen und
vielleicht ebenso zusammen gehören, wie Mund und
Ohr, da der erste nur ein bewegliches und
antwortendes Ohr ist – daß also dieser Tonkünstler
übers Meer in ein fremdes Land reisen wollte. Er
war reich an schönen Kleinodien und köstlichen
Dingen, die ihm aus Dankbarkeit verehrt worden
waren. Er fand ein Schiff am Ufer, und die Leute
darin schienen bereitwillig, ihn für den
verheißenen Lohn nach der verlangten Gegend zu
fahren. Der Glanz und die Zierlichkeit seiner
Schätze reizten aber bald ihre Habsucht so sehr,
daß sie untereinander verabredeten, sich seiner zu
bemächtigen, ihn ins Meer zu werfen und nachher
seine Habe untereinander zu verteilen. Wie sie
also mitten im Meere waren, fielen sie über ihn
her, und sagten ihm, daß er sterben müsse, weil
sie beschlossen hätten, ihn ins Meer zu werfen. Er
bat sie auf die rührendste Weise um sein Leben,
bot ihnen seine Schätze zum Lösegeld an, und
prophezeite ihnen großes Unglück, wenn sie ihren
Vorsatz ausführen würden. Aber weder das eine,
noch das andere konnte sie bewegen: denn sie
fürchteten sich, daß er ihre bösliche Tat einmal
verraten möchte. Da er sie nun einmal so fest
entschlossen sah, bat er sie ihm wenigstens zu
erlauben, daß er noch vor seinem Ende seinen
Schwanengesang spielen dürfe, dann wolle er mit
seinem schlichten hölzernen Instrumente, vor ihren
Augen freiwillig ins Meer springen. Sie wußten
recht wohl, daß wenn sie seinen Zaubergesang
hörten, ihre Herzen erweicht, und sie von Reue
ergriffen werden würden; daher nahmen sie sich
vor, ihm zwar diese letzte Bitte zu gewähren,
während des Gesanges aber sich die Ohren fest zu
verstopfen, daß sie nichts davon vernähmen, und so
bei ihrem Vorhaben bleiben könnten. Dies geschah.
Der Sänger stimmte einen herrlichen, unendlich
rührenden Gesang an. Das ganze Schiff tönte mit,
die Wellen klangen, die Sonne und die Gestirne
erschienen zugleich am Himmel, und aus den grünen
Fluten tauchten tanzende Scharen von Fischen und
Meerungeheuern hervor. Die Schiffer standen
feindselig allein mit festverstopften Ohren, und
warteten voll Ungeduld auf das Ende des Liedes.
Bald war es vorüber. Da sprang der Sänger mit
heitrer Stirn in den dunkeln Abgrund hin, sein
wundertätiges Werkzeug im Arm. Er hatte kaum die
glänzenden Wogen berührt, so hob sich der breite
Rücken eines dankbaren Untiers unter ihm hervor,
und es schwamm schnell mit dem erstaunten Sänger
davon. Nach kurzer Zeit hatte es mit ihm die Küste
erreicht, nach der er hingewollt hatte, und setzte
ihn sanft im Schilfe nieder. Der Dichter sang
seinem Retter ein frohes Lied, und ging dankbar
von dannen. Nach einiger Zeit ging er einmal am
Ufer des Meers allein, und klagte in süßen Tönen
über seine verlorenen Kleinode, die ihm als
Erinnerungen glücklicher Stunden und als Zeichen
der Liebe und Dankbarkeit so wert gewesen waren.
Indem er so sang, kam plötzlich sein alter Freund
im Meere fröhlich daher gerauscht, und ließ aus
seinem Rachen die geraubten Schätze auf den Sand
fallen. Die Schiffer hatten, nach des Sängers
Sprunge, sich sogleich in seine Hinterlassenschaft
zu teilen angefangen. Bei dieser Teilung war
Streit unter ihnen entstanden, und hatte sich in
einen mörderischen Kampf geendigt, der den meisten
das Leben gekostet; die wenigen, die überig
geblieben, hatten allein das Schiff nicht regieren
können, und es war bald auf den Strand geraten, wo
es scheiterte und unterging. Sie brachten mit
genauer Not das Leben davon, und kamen mit leeren
Händen und zerrissenen Kleidern ans Land, und so
kehrten durch die Hülfe des dankbaren Meertiers,
das die Schätze im Meere aufsuchte, dieselben in
die Hände ihres alten Besitzers zurück.«
(RUB 8939, S. 28–30)
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