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Thomas Carlyle: Novalis (1829). In: Thomas Carlyle's ausgewählte Schriften. Deutsch von A. Kretzschmar. Zweiter Band. Voltaire. – Diderot. – Novalis. – Charakteristiken. Leipzig: Otto Wigand 1855. S. 154-210, hier S. 190-197.
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Um Novalis' wissenschaftliche Ansichten fernerweit und auf noch directere Weise zu erläutern, fügen wir hier zwei kurze Skizzen hinzu, die wir einer andern Abtheilung dieses Bandes entlehnen. Für Alle, welche Philosophie treiben und ihre Geschichte und gegenwärtige Gestalt aufmerksam verfolgen, werden sie nicht ohne Interesse sein. Die obscuren Stellen sind vielleicht nicht unverständlich, sondern blos obscur, was sich unglücklicherweise in solchen Fällen nicht allemal ändern läßt.
»Die gewöhnliche Logik ist die Grammatik der höhern Sprache, oder des Denkens; sie enthält blos die Verhältnisse der Begriffe unter einander, die Mechanik des Denkens, die reine Physiologie der Begriffe. Die logischen Begriffe verhalten sich aber zu einander, wie die Worte ohne Gedanken. – Die Logik beschäftigt sich blos mit dem todten Körper der Denklehre. – Die Metaphysik ist die reine Dynamik des Denkens, sie handelt von den ursprünglichen Denkkräften, sie beschäftigt sich mit der bloßen Seele der Denklehre. Die metaphysischen Begriffe verhalten sich zu einander, wie Gedanken ohne Worte. Oft wunderte man sich über die beharrliche Unvollendung beider Wissenschaften, jede trieb ihr Wesen für sich, und es fehlte überall, es wollte nie recht in keiner passen. Gleich von Anfang suchte man sie zu vereinigen, da alles in ihnen auf Verwandtschaft deutete; aber jeder Versuch mißlang, da eine von beiden immer dabei litt, und ihren wesentlichen Charakter einbüßte. Es blieb bei metaphysischer Logik und logischer Metaphysik, aber keine war, was sie sein sollte. Der Physiologie und Psychologie, der Mechanik und Chemie erging es nicht besser. In der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts entstand hier eine neue heftigere Entzündung als je; die feindlichen Massen thürmten sich stärker als zeither gegen einander auf, die Gährung war übermäßig, es erfolgten mächtige Explosionen. Jetzt behaupteten Einige, es habe sich irgendwo eine wahrhafte Durchdringung ereignet, es sei ein Keim der Vereinigung entstanden, der allmälig wachsen, und alles zu Einer untheilbaren Gestalt assimiliren werde; dieses Prinzip des ewigen Friedens dringe unwiderstehlich nach allen Seiten und bald werde nur Eine Wissenschaft und Ein Geist, wie Ein Prophet und Ein Gott sein. –
Der rohe, discursive Denker ist der Scholastiker. Der ächte Scholastiker ist ein mystischer Subtilist; aus logischen Atomen baut er sein Weltall; er vernichtet alle lebendige Natur, um ein Gedankenkunststück an ihre
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Stelle zu setzen. Sein Ziel ist ein unendliches Automat. Ihm entgegengesetzt ist der rohe, intuitive Dichter: dieser ist ein mystischer Makrolog; er haßt Regel und feste Gestalt; ein wildes, gewaltthätiges Leben herrscht statt ihrer in der Natur; alles ist belebt, kein Gesetz; Willkür und Wunder überall. Er ist blos dynamisch. So regt sich der philosophische Geist zuerst in völlig getrennten Massen. Auf der zweiten Stufe der Kultur fangen diese Massen an, sich zu berühren, mannigfaltig genug; so wie in der Vereinigung unendlicher Extreme überhaupt das Endliche, Beschränkte entsteht, so entstehen auch hier Eklektiker ohne Zahl; die Zeit der Mißverständnisse beginnt. Der Beschränkteste ist auf dieser Stufe der bedeutendste, der reinste Philosoph der zweiten Stufe. Diese Klasse ist ganz auf die wirkliche, gegenwärtige Welt, im strengsten Sinne, eingeschränkt. Die Philosophen der ersten Klasse sehen mit Verachtung auf die zweite herab; sie sagen, sie sei alles nur ein wenig, und mithin nichts; sie halten ihre Ansichten für Folgen der Schwäche, für Inconsequentismus. Im Gegentheil bemitleidet die zweite Klasse wiederum die erste, und giebt ihr Schwärmerei Schuld, die bis zum Wahnwitz absurd sei. Wenn von einer Seite Scholastiker und Alchymisten gänzlich gespalten, die Eklektiker hingegen Eins zu sein scheinen, so ist doch auf dem Revers alles gerade umgekehrt. Jene sind im Wesentlichen indirekt eines Sinnes, nämlich über die absolute Unabhängigkeit und unendliche Tendenz der Meditation, sie gehen beide vom Absoluten aus; dagegen die Bornirten im Wesentlichen mit sich selbst uneins, und nur im Abgeleiteten übereinstimmend sind. Jene sind unendlich, aber einförmig, diese beschränkt, aber mannigfaltig; jene haben das Genie, diese das Talent; jene die Ideen, diese die Handgriffe; jene sind Köpfe ohne Hände, diese Hände ohne Köpfe. Die dritte Stufe ersteigt der Künstler, der Werkzeug und Genie zugleich ist. Er findet, daß jene ursprüngliche Trennung der absoluten philosophischen Thätigkeiten eine tiefer liegende Trennung seines eigenen Wesens sei, deren Bestehen auf der Möglichkeit ihrer Vermittelung, ihrer Verbindung beruht; er findet, daß so heterogen auch diese Thätigkeiten sind, sich doch ein Vermögen in ihm vorfindet, von einer zur andern überzugehen, nach Gefallen seine Polarität zu verändern. Er entdeckt also in ihnen nothwendige Glieder seines Geistes; er merkt, daß beide in einem gemeinsamen Prinzip vereinigt sein müssen. Er schließt daraus, daß der Eklekticismus nichts als das Resultat des unvollständigen, mangelhaften Gebrauchs dieses Vermögens sei. Es wird –«
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– Doch wir brauchen uns nicht weiter zu bemühen, um eine Bedeutung aus diesen geheimnißvollen Worten herauszupressen, denn bei der Schilderung des ächten Transcendentalisten oder »Philosophen der dritten Stufe« steigt Novalis in Regionen hinauf, wohin nur wenige Leser ihm folgen würden. Es mag hier bemerkt werden, daß die britische Philosophie, wenn wir sie von Duns Scotus bis Dugald Stewart verfolgen, jetzt das erste und zweite dieser Stadien, das scholastische und das eklektische, mit Ehren durchgemacht hat. Mit unserm liebenswürdigen Professor Stewart, der mehr als irgend Jemand, ja mehr als Cicero selbst, durch und durch Eklektiker war, kann diese zweite oder eklektische Klasse als erloschen betrachtet werden und die Philosophie steht jetzt still, oder vielmehr es ist auf unsern Inseln gar keine Philosophie sichtbar. Wir müssen nun noch abwarten, ob wir auch unser drittes Stadium bekommen werden und wie diese neue und höchste Klasse sich hier gehaben wird. Die französischen Philosophen scheinen jetzt beschäftigt, Kant zu studiren und über ihn zu schreiben, doch glauben wir, Novalis würde erklären, daß sie sich noch auf der eklektischen Stufe befinden. Er sagt später, daß alle Eklektiker wesentlich und im Grunde genommen Skeptiker seien; je umfassender, desto skeptischer.
Die beiden vorstehenden Citate sind einer langen Reihe »Fragmente« entnommen, welche unter den drei Abtheilungen der philosophischen, kritischen und moralischen den größten Theil des zweiten Bandes ausmachen. Es sind, wie wir schon oben andeuteten, Bruchstücke jenes großartigen encyclopädischen Werkes, zu welchem Novalis den Plan entworfen. Friedrich Schlegel hat die Auswahl besorgt. Diese Gedanken liegen uns ohne weitere Bemerkung oder Commentar vor; größtentheils sind sie in sehr ungewöhnlichen Ausdrücken abgefaßt und gewähren ohne wiederholte und geduldige Untersuchung selten irgend eine Bedeutung, oder wir sollten vielmehr sagen, sie geben oft eine falsche.
Einige der klarsten haben wir hier ausgewählt; ob der Leser sie für »Blüthenstaub« oder eine niedrigere Gattung Staub ansehen werde, wollen wir nicht voraussagen. Wir geben sie in gemischter Form, ohne uns an jene Klassifikationen zu halten, welchen selbst im Texte nicht streng nachgegangen ist und nicht nachgegangen werden konnte.
»Die Philosophie kann kein Brod backen, aber sie kann uns Gott, Freiheit und Unsterblichkeit verschaffen. Welche ist nun praktischer: Philosophie oder Oekonomie?
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Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein.
Wir sind dem Aufwachen nahe, wenn wir träumen, daß wir träumen.
Der ächte philosophische Act ist Selbsttödtung; dies ist der reale Anfang aller Philosophie, dahin geht alles Bedürfniß des philosophischen Jüngers und nur dieser Act entspricht allen Bedingungen und Merkmalen der transcendentalen Handlung.
Um eine Wahrheit recht kennen zu lernen, muß man sie auch polemisirt haben.
Die Menschheit ist der höhere Sinn unsers Planeten, der Stern, der dieses Glied mit der obern Welt verknüpft, das Auge, das er gen Himmel hebt.
Leben ist eine Krankheit des Geistes, ein leidenschaftliches Thun.
Dem Geiste ist Ruhe eigenthümlich.
Unser Leben ist kein Traum, aber es soll und wird vielleicht einer werden.
Was ist die Natur? Ein encyclopädischer, systematischer Index oder Plan unseres Geistes. Warum wollen wir uns mit dem bloßen Verzeichniß unserer Schätze begnügen? Laßt sie uns selbst betrachten und sie mannigfaltig bearbeiten und benutzen.
Wenn unser körperliches Leben ein Verbrennen ist, so ist auch wohl unser geistiges eine Combustion (oder ist dies gerade umgekehrt?); der Tod also vielleicht eine Veränderung der Capacität.
Der Schlaf ist nur den Planetenbewohnern eigen. Einst wird der Mensch beständig zugleich schlafen und wachen. Der größte Theil unsers Körpers, unserer Menschheit selbst schläft noch tiefen Schlummer.
Es giebt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger, als diese hohe Gestalt. Das Bücken vor Menschen ist eine Huldigung dieser Offenbarung im Fleisch. – Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.
Der Mensch ist eine Sonne, seine Sinne sind die Planeten.
Der Mensch hat immer symbolische Philosophie seines Wesens in seinen Werken und in seinem Thun und Lassen ausgedrückt. Er verkündigt sich und sein Evangelium der Natur, er ist der Messias der Natur.
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Die Pflanzen sind Erdenkinder, wir Kinder des Aethers. Die Lunge ist eigentlich unser Wurzelkern; wir leben, wenn wir athmen und fangen unser Leben mit Athmen an.
Die Natur ist eine Aeolsharfe, ein musikalisches Instrument, dessen Töne wieder Tasten höherer Saiten in uns sind.
Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses.
Der erste Mensch ist der erste Geisterseher, ihm erscheint alles als Geist. Was sind Kinder anders, als erste Menschen? Der frische Blick des Kindes ist überschwenglicher, als die Ahnung des entschiedensten Sehers.
Es liegt nur an der Schwäche unserer Organe und der Selbstberührung, daß wir uns nicht in einer Feenwelt erblicken. Alle Märchen sind nur Träume von jener heimathlichen Welt, die überall und nirgend ist. Die höheren Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen *) werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mt süßen Erinnerungen erquicken.
Ein Charakter ist ein vollkommen gebildeter Wille.
Es giebt gar kein eigentliches Unglück in der Welt. Glück und Unglück stehen in beständiger Wage. Jedes Unglück ist gleichsam das Hinderniß eines Stroms, der nach überwundenem Hinderniß nur desto mächtiger durchbricht. Dies ist nirgends auffallender als beim Mißwachs in der Oekonomie.
Der Mensch besteht in der Wahrheit. Giebt er die Wahrheit preis, so giebt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verräth, verräth sich selbst. Es ist hier nicht die Rede vom Lügen, sondern vom Handeln gegen Ueberzeugung.
Das Ideal der Sittlichkeit hat keinen gefährlicheren Nebenbuhler, als das Ideal der höchsten Stärke, des kräftigsten Lebens, was man auch das Ideal der ästhetischen Größe (im Grunde sehr richtig, der Meinung nach aber sehr falsch) benannt hat. Es ist das Maximum der Barbaren, und
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hat leider in diesen Zeiten der verwilderten Kultur gerade unter den größten Schwächlingen sehr viele Anhänger erhalten. Der Mensch wird durch dieses Ideal zum Thier-Geiste, eine Vermischung, deren brutaler Witz eben eine brutale Anziehungskraft für Schwächlinge hat.
Der Geist der Poesie ist das Morgenlicht, das die Statue des Memnon tönen macht.
Die Trennung von Philosoph und Dichter ist nur scheinbar und zum Nachtheil beider. Es ist ein Zeichen einer Krankheit und krankhaften Constitution.
Der ächte Dichter ist allwissend; er ist eine wirkliche Welt im Kleinen.
Klopstock's Werke scheinen größtentheils freie Uebersetzungen und Bearbeitungen eines unbekannten Dichters durch einen sehr talentvollen aber unpoetischen Philologen zu sein.
Goethe ist ganz praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waaren ist: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. Er hat in der deutschen Literatur das gethan, was Wedgewood in der englischen Kunstwelt gethan hat. Er hat, wie die Engländer, einen natürlich ökonomischen, und einen durch Verstand erworbenen edeln Geschmack. Beides verträgt sich sehr gut, und hat eine nahe Verwandtschaft mit chemischem Sinn. – – – Wilhelm Meister's Lehrjahre sind gewissermaßen durchaus prosaisch und modern. Das Romantische geht darin zu Grunde, auch die Naturpoesie, das Wunderbare. Das Buch handelt blos von gewöhnlichen Dingen, die Natur und der Mysticismus sind ganz vergessen. Es ist eine poetisirte bürgerliche und häusliche Geschichte, das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buchs. – – – Wilhelm Meister ist eigentlich ein Candide, gegen die Poesie gerichtet; das Buch ist undichterisch in einem hohen Grade, was den Geist betrifft, so poetisch auch die Darstellung ist. – – – Die Einführung Shakspeare's macht eine fast tragische Wirkung. Der Held retardirt das Eindringen vom Evangelium der Oekonomie, und die ökonomische Natur ist endlich die wahre, übrig bleibende.
Wenn man von der Absichtlichkeit und Künstlichkeit der Shakspeareschen Werke spricht, so muß man nicht vergessen, daß die Kunst zur Natur
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gehört, und gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur ist. Die Kunst einer gut entwickelten Natur ist freilich von der Künstelei des Verstandes, des blos raisonnirenden Geistes sehr unterschieden. Shakspeare war kein Calculator, kein Gelehrter, er war eine mächtige buntkräftige Seele, deren Empfindungen und Werke, wie Erzeugnisse der Natur, das Gepräge des denkenden Geistes tragen, und in denen auch der letzte scharfsinnige Beobachter noch neue Uebereinstimmungen mit dem unendlichen Gliederbau des Weltalls, Begegnungen mit spätern Ideen, Verwandtschaften mit den höheren Kräften und Sinnen der Menschheit finden wird. Sie sind sinnbildlich und vieldeutig, einfach und unerschöpflich, wie die Erzeugnisse der Natur, und es dürfte nichts Unpassenderes von ihnen gesagt werden können, als daß sie Kunstwerke in jener eingeschränkten, mechanischen Bedeutung des Worts seien.«
Der Leser begreift, daß wir diese Proben nicht als die besten, die in Novalis' »Fragmenten« zu finden sind, sondern einfach als die verständlichsten darbieten. Noch weit seltsamere und tiefere Dinge befinden sich darunter, könnten wir nur hoffen, sie im entferntesten Grade verständlich zu machen. Indem wir aber viele dieser »Fragmente« immer und immer wieder prüfen, finden wir uns in complicirtere und schwierigere Regionen des Denkens hineingeführt, als wir irgendwo kennen gelernt haben. Wir kommen hier selbst aus unserer Länge und Breite, und sind daher noch viel weniger im Stande, sie Andern zu lehren.
Das von uns bereits Mitgetheilte kann jedoch Novalis in seiner Eigenschaft als Philosoph und Kritiker wenigstens einigermaßen kennen lehren; er bietet aber auch noch eine andere Gestalt dar, deren Betrachtung noch interessanter, aber auch noch schwieriger ist – wir meinen seine Religion. Novalis theilt in diesen Schriften sein Glaubensbekenntniß nirgends speziell mit. Oft giebt er einen eifrigen und herzlichen Glauben an das christliche System zu erkennen oder zu verstehen, dabei aber unter solchen Nebenumständen und anderweiten Ueberzeugungen, daß wir dadurch nothwendig überrascht werden müssen. Wir wollen hier einige seiner auf diesen Gegenstand bezüglichen Aphorismen mittheilen, was besser sein wird, als wenn wir eine Beschreibung versuchten. Die ganze Abhandlung am Ende des ersten Bandes, »die Christenheit oder Europa« überschrieben, ist in diesen wie aus vielen andern Gesichtspunkten ebenfalls eines genauen Studiums würdig.
»Die Religion enthält unendliche Wehmuth. Sollen wir Gott lieben,
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so muß er hülsbedürftig sein. Inwiefern ist im Christianismus diese Aufgabe gelöst?
Spinoza ist ein gott-trunkener Mensch.
Sollte der Teufel als Vater der Lüge selbst nur ein nothwendiges Gespenst sein?
Die katholische Religion ist gewissermaßen schon angewandte christliche Religion. Auch die Fichte'sche Philosophie ist vielleicht angewandter Christianismus.
Können Wunder Ueberzeugung wirken? Oder wäre nicht wahrhafte Ueberzeugung, diese höchste Funktion unseres Gemüths und unserer Personalität, das einzige wahre Gott verkündende Wunder?
Die christliche Religion ist auch dadurch vorzüglich merkwürdig, daß sie so entschieden den bloßen guten Willen im Menschen ohne alle Ausbildung in Anspruch nimmt und darauf Werth legt. Sie steht in Opposition mit Wissenschaft und Kunst und eigentlichem Genuß.
Vom gemeinen Manne geht sie aus. Sie beseelt die große Majorität der Beschränkten auf Erden.
Sie ist das Licht, was in der Dunkelheit zu glänzen anfängt.
Sie ist der Keim alles Demokratismus, die höchste Thatsache der Popularität.
Ihr unpoetisches Aeußere, ihre Aehnlichkeit mit einem häuslichen Gemälde scheint ihr nur geliehen zu sein.
Märtyrer sind geistliche Helden. Jeder Mensch hat wohl seine Märtyrerjahre. Christus war der große Märtyrer unseres Geschlechts; durch ihn ist das Märtyrerthum unendlich tiefsinnig und heilig geworden.
Die Bibel fängt herrlich mit dem Paradiese, dem Symbol der Jugend an, und schließt mit dem ewigen Reiche, mit der heiligen Stadt. Auch ihre zwei Hauptbestandtheile sind ächt großhistorisch. (In jedem großhistorischen Gliede muß gleichsam die große Geschichte symbolisch verjüngt liegen.) Der Anfang des neuen Testaments ist der zweite, höhere Sündenfall (Sünde: was gesühnt werden muß), und der Anfang der neuen Periode. Die Geschichte eines jeden Menschen soll eine Bibel sein. Christus ist der neue Adam. Eine Bibel ist die höchste Aufgabe der Schriftstellerei.
Noch ist keine Religion. Man muß eine Bildungsschule ächter Religion erst stiften. Glaubt ihr, daß es Religion gebe? Religion muß gemacht und hervorgebracht werden durch die Vereinigung mehrerer Menschen.«
[Anmerkung]
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Novalis' Ideen über die sogenannte Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen gründen sich auf seine eigenthümlichen Ansichten über die Constitution der materiellen und geistigen Natur, und sind von der originellsten und außerordentlichsten Art. Selbst wenn wir uns die größte Mühe geben wollten, würden wir dennoch daran verzweifeln, einen anderen als vollständig falschen Begriff davon mitzutheilen. So fragt er z. B. mit wissenschaftlichem Ernste, ob wohl Jemand, der sich des ersten freundlichen Blickes seiner Geliebten entsinne, an der Möglichkeit der Magie zweifeln könne.
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