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Aquarium > Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert > Thomas Carlyle: Novalis (1829) > [I. Die vierte Auflage der Schriften und die Methoden des Rezensierens]

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Thomas Carlyle: Novalis (1829). In: Thomas Carlyle's ausgewählte Schriften. Deutsch von A. Kretzschmar. Zweiter Band. Voltaire. – Diderot. – Novalis. – Charakteristiken. Leipzig: Otto Wigand 1855. S. 154-210, hier S. 154-162.

[Seite 154:]

Novalis.

(1829.)

Vor mehrern Jahren ward Jean Paul durch ein Exemplar von Novalis' Schriften veranlaßt, zu glauben, daß die deutsche Lesewelt eine ziemlich flatterhafte sein müsse, weil sie sich mit Büchern, die mehr als einmal gelesen zu werden verlangten, lieber gar nichts zu schaffen machte. Das Exemplar, welches Jean Paul sehr bereitwillig, ja mit unverkennbarer Freude in der Bibliothek geliehen bekam, war nämlich noch von der ersten Ausgabe, unaufgeschnitten und mit Staub bedeckt. Seitdem jedoch müssen sich die Zeiten bedeutend geändert haben, denn wenn wir das deutsche Lesepublikum nach den uns vorliegenden Schriften von Novalis, herausgegeben von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel, beurtheilen, so kommen wir zu einem ganz andern Schlusse. Sie gehören nämlich der vierten Auflage an und sind daher vielleicht das zehntausendste Exemplar eines Buches, welches, mit Recht oder Unrecht, öfter gelesen zu werden verlangt, als fast irgend eins, welches uns jemals zur Durchsicht vorgelegen.

Ohne jetzt auf Novalis' Verdienste überhaupt eingehen zu wollen, bemerken wir, daß wir es als ein glückliches Zeichen der Literatur betrachten würden, wenn solche solide Studien in allen Ländern die Oberhand gewönnen, denn ganz im Gegensatz zu der Meinung der »intelligenten Theecirkel« läßt sich behaupten, daß kein gutes Buch, so wie überhaupt nichts Gutes irgend einer Art, sein »bestes Gesicht« gleich anfangs zeigt, ja daß die gewöhnlichste Eigenschaft eines wahren Kunstwerkes, wenn seine Vorzüge von wirklicher Tiefe und Bedeutung sind, darin besteht, daß es auf den ersten Anblick eine gewisse Täuschung, ja vielleicht sogar, trotz seiner unleugbaren Schönheit, ein gewisses Gefühl des Widerwillens erweckt.

[Seite 155:]

Es fällt uns nicht ein, mit dieser Bemerkung einen Stein auf die alte Zunft der literarischen Improvisatoren oder irgend ein Mitglied jener fleißigen Sippschaft werfen zu wollen, deren Handwerk es ist, Seifenblasen für ihre Mitmenschen zu fertigen, welche Seifenblasen natürlich, wenn sie nicht sofort gesehen und bewundert werden, im nächsten Augenblicke den Augen der Menschen auf immer entschwunden sind. In Erwägung des Nutzens, den diese Seifenblasenfabrikanten in civilisirten Staaten haben, wünschen wir ihnen vielmehr recht kräftige Lungen und alles mögliche Gedeihen; nur möchten wir einfach uns dafür erklären, daß diese Seifenblasenzunft in der Literatur nicht die einzige werde, daß sie, da sie unleugbar die stärkste ist, sich mit diesem Vorrange begnüge und ihre in weniger gedeihlichen Umständen lebenden Nachbarn nicht tyrannisch vernichte, denn man darf nicht vergessen, daß die Literatur unbedingt noch andere Zwecke hat, als den der vorübergehenden Unterhaltung, ja daß vielleicht dieser Zweck, so schön er auch sein mag, weder ihr höchster noch ihr wahrer ist.

Deshalb sagen wir, daß die Korporation der Improvisatoren sich in bestimmten Grenzen halten und daß die Leser, wenigstens eine gewisse kleine Klasse von Lesern einsehen sollen, daß einige Fächer menschlicher Forschung noch ihre Tiefen und Schwierigkeiten haben, daß das Abstruse nicht gleichbedeutund ist mit dem Absurden, ja daß bei einem gewissen Zustande der Sehkraft selbst das Licht Finsterniß sein kann, daß mit einem Worte Fälle eintreten können, wo ein wenig Geduld und ein Versuch zum Nachdenken beim Lesen nicht ganz überflüssig ist.

Die große Masse der Schriftsteller möge auf ihrem eigenen Terrain bleiben und sich dort wohlbefinden und Beifall ernten. Wenn sie diese Grenze überschreiten, so gedeihen sie freilich dann blos um so besser, aber der Leser leidet Schaden. Auf diese Weise vergißt nämlich der Leser, welcher gewöhnt ist, Alles in einer einzigen Secunde zu durchschauen, sehr leicht, daß seine Weisheit und sein kritischer Scharfblick endlich und nicht unendlich sind und begeht dann bei seinen Schlüssen mehr als einen Fehler. Auch der Recensent, der allerdings blos ein vorbereitender Leser oder gleichsam ein Sieb und eine Filtrirmaschine zum Nutzen bequemerer Leser ist, folgt bald seinem Beispiel. Diese beiden reagiren nun noch mehr auf den großen Haufen der Schriftsteller und so wird durch diese Action und Reaction unter ihnen allen die Sache immer schlimmer und schlimmer.

Es scheint uns, als ob in Bezug auf dieses ehrliche und wißbegierige

[Seite 156:]

Lesen die Deutschen uns Engländern ziemlich voraus wären, wenigstens haben wir keinen solchen Fall aufzuweisen, wie diese vierte Auflage von Novalis. Coleridge's »Freund« z. B. und seine »Biographia Literaria« sind eine Kleinigkeit im Vergleich mit diesen »Schriften«, die kaum mehr als ein Alphabet umfassen und über Philosophie und Kunst handeln, die dort in der Form von Grammatik und rhetorischen Compendien gelehrt werden. Und doch wurden Coleridge's Werke von der ganzen Recensentenwelt als geradezu unverständlich verworfen und unter Lesern haben sie noch eine unsichtbare Cirkulation, gleich lebenden Bächen, die jetzt unter Gebirgen von Schaum und theatralischem Schneepapier verborgen sind und erst in der Zukunft, wenn diese Berge sich in Gas und irdischen Niederschlag zersetzt haben, in ihrer wahren, durchsichtig flüssigen Form hervorsprudeln werden, um das Auge der Menschheit durch die in ihnen wirklich wohnende Schönheit und ewige Frische zu entzücken.

Dabei wird von allen Seiten zugegeben, daß Mr. Coleridge ein Mann von »Genie« ist, das heißt ein Mann, der mehr intellectuelle Einsicht besitzt, als andere Menschen, und seltsam genug wird gleichzeitig als ausgemacht angenommen, daß er weniger intellectuelle Einsicht besitze, als irgend ein anderer. Denn warum sollen sonst seine Theorien ohne weitere Prüfung als falsch und werthlos zur Thür hinausgeworfen werden, blos weil sie dunkel sind? Oder wie läßt sich ihre so handgreifliche Unrichtigkeit anders als auf den außerordentlichen Grund hin erklären, daß ein Mann, welcher im Stande ist, tiefe Gedanken zu erzeugen (dies versteht man unter Genie), doch nicht im Stande ist, sie zu sehen, wenn er sie erzeugt hat; daß der schaffende Verstand eines Philosophen doch jener blos logischen Fähigkeit ermangelt, welche »allen Advocaten und in Edinburg gebildeten Leuten« eigen ist? Jener Fuhrmann in Cambridge gab, als er gefragt ward, ob sein Pferd auch »Schlüsse ziehen« könne, sofort zur Antwort: »Ja, Alles, was vernünftig ist«; aber hier sehen wir, wie es scheint, einen Mann von Genie, dem diese Befähigung abgeht.

Wir selbst sind, wie wir gern bekennen, in dem Studium der menschlichen Natur noch zu jung, als daß wir auf eine solche Anomalie gestoßen wären. Noch nie hat uns das Schicksal mit einem Manne von Genie zusammengeführt, dessen Schlüsse seinen Prämissen nicht besser, aber keineswegs schlechter, als die anderer Menschen entsprochen hätten; dessen Genius, sobald man ihn einmal verstand, sich nicht in einer tieferen, umfassenderen

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und richtigeren Ansicht aller menschlichen und göttlichen Dinge offenbarte, als der klarste der so gerühmten »praktischen Leute« beanspruchen konnte.

Dies, sagen wir, ist das gleichförmige Ergebniß unserer Erfahrung gewesen, so gleichförmig, daß wir nun kaum noch erwarten, es widerlegt zu sehen. Allerdings hat das alte pythagoräische Argument: »der Meister hat es gesagt« schon längst seine Geltung verloren. In unsern Zeiten ist kein Mensch, mit Ausnahme des Papstes in Rom, ganz frei von Fehlern des Urtheils; ohne Zweifel kann auch ein Mann von Genie unrichtigen Meinungen huldigen, oder vielmehr, er so gut wie alle anderen Adamssöhne, mit Ausnahme jenes beneidenswerthen Papstes, muß dann und wann falschen Meinungen huldigen.

Trotzdem halten wir es für eine sehr gute Maxime, welcher zufolge kein Irrthum als vollständig widerlegt betrachtet wird, bis wir nicht blos gesehen haben, daß es ein Irrthum ist, sondern auch wie es einer ward; bis wir, indem wir finden, daß er den in unserem Gemüthe festgewurzelten Prinzipien der Wahrheit widerstreitet, auch sehen, auf welche Weise es gekommen war, daß er mit den Prinzipien der Wahrheit zu harmoniren schien, die in jenem andern, vielleicht unaussprechlich über uns erhabenen Gemüthe wurzeln.

Wenn man auf diese Weise verfährt, so zeigt sich, daß in Gemäßheit des alten Sprichworts die Irrthümer eines Weisen buchstäblich lehrreicher sind, als die Wahrheiten eines Narren. Der Weise wandelt in hohen, weit ausschauenden Regionen; der Narr auf tiefliegenden, hoch eingefriedigten Heckenwegen. Verfolgen wir die Fußtapfen des Erstern, um zu entdecken, wo er von dem richtigen Pfade abwich, so zeigen sich uns ganze Reiche des Weltalls; auf dem Pfade des Letztern dagegen entdecken wir, selbst zugegeben, daß er gar nicht abgewichen ist, wenig mehr als zwei Wagengeleise und zwei Zäune.

Aus diesen Gründen halten wir es in fast allen Fällen für nützlicher, wenn man mit Männern von Tiefe, als wenn man mit Männern von Seichtigkeit zu thun hat und wäre es möglich, so würden wir kein Buch lesen, welches nicht von einem Manne der erstern Klasse geschrieben wäre, deren Mitglieder wir alle lieben und verehren würden, wie verkehrt sie uns auch anfangs erscheinen möchten, ja wenn wir auch nach der gründlichsten Untersuchung noch immer Vieles an ihnen zu verzeihen fänden.

Diejenigen unserer Leser, welche in größerem oder geringerem Grade diese Vorliebe theilen, werden es uns Dank wissen, wenn wir sie mit Novalis bekannt machen, einem Mann von dem unbestreitbarsten poetischen und

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philosophischen Talent, dessen Ansichten, so außerordentlich, ja abenteuerlich und aus der Luft gegriffen sie auch oft erscheinen, in seinem eigenen Sinne nicht ohne strengen Zusammenhang sind und jeden andern Geist, der sie redlich prüft, zu endlosen Betrachtungen führen, die seltsamsten Forschungen, neue Wahrheiten oder neue Möglichkeiten von Wahrheit, mit einem Worte eine ganze unerwartete Gedankenwelt erschließen, wo – wir mögen nun glauben oder leugnen – die tiefsten Fragen uns erwarten.

Bei dem sogenannten Recensiren eines Buches wie dieses bieten sich, wie wir recht wohl wissen, dem klugen Manne vom Handwerk zwei verschiedene Methoden dar.

Die erste und für den Recensenten bequemste ist, wenn er sich entschlossen seinem Autor gleichsam auf die Schulter setzt und dabei thut, als ob er ihn commandirte und in Folge einer natürlichen Ueberlegenheit an Körpergröße auf ihn herabblickte. Alles, was der große Mann sagt oder thut, behandelt der kleine Mann mit einer Miene von Schlauheit und herablassender Ironie, indem er unter allerhand versteckten Sarkasmen gesteht, daß diese oder jene Stelle über seinen Horizont gehe, wobei er seine Leser listig fragt, ob sie es vielleicht verstehen! Hierbei wird er sich gewaltig helfen, wenn er, abgesehen von der Beschreibung, einige wenige Stellen citiren kann, welche bei ihrem aus dem Zusammenhange gerissenen Zustande und höchst wahrscheinlich in einer ganz falschen Bedeutung der Worte aufgefaßt, seltsam und für gewisse Hörer sogar abgeschmackt klingen.

Alles dies wird sehr leicht sein, sobald er nur einige Anstelligkeit und Fertigkeit in der Sache besitzt und sich an das rechte Publikum wendet, denn Wahrheiten sind bei dem Laufe der Welt doch immer nur für Die wahr, welche schon etwas davon verstehen und dadurch in den Stand gesetzt sind, sie vollständig zu begreifen.

Sollte dagegen unser Recensent auf eine Stelle stoßen, deren tiefe, klare und selbst für den einfachsten Geist handgreifliche Weisheit den Leser auf die Vermuthung bringen könnte, daß er es hier mit einem Manne von noch unerkannter Begabung zu thun habe, der eher Bewunderung als Spott verdiene, so unterdrückt der Recensent solche Stellen entweder, oder citirt sie mit einem Anschein von lobenswerther Unparteilichkeit und fordert seinen Autor in gebieterischem und ermuthigendem Tone auf, sich seine überschwenglichen Mucken abzugewöhnen und immer so zu schreiben, dann werde er ihn bewundern.

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Dadurch fühlt sich der Leser wieder getröstet, liest ohne weitere Beirrung den Artikel zu Ende und giebt sich dem triumphirenden Gefühl hin, nicht blos, daß er und der Recensent diesen Autor verstehen, sondern auch daß, abgesehen von einigen Strahlen von Phantasie u. dergl., derselbe nicht viel besser ist, als eine lebendige Masse von Finsterniß.

Auf diese Weise triumphirt der kleine Recensent über große Autoren, aber es ist der Triumph eines Narren. Auf diese Weise empfiehlt er sich auch bei gewissen Lesern, aber es ist die Empfehlung eines Schmarotzers und keines redlichen Dieners. Der redliche Diener würde in diesem Falle die Wahrheit gesprochen haben, nützliche Wahrheit, wie unfreundlich sie auch geklungen haben möchte; der Schmarotzer dagegen »lackirt« seinen Herrn mit glatten Reden, um ihm Beifall und so und so viel Guineen pro Bogen abzustehlen, wobei er an die Stelle der Unwissenheit, die harmlos war, den Irrthum setzt, der es nicht ist.

Und dennoch ist für den gewöhnlichen Leser auf ganz natürliche Weise diese schmeichelhafte Salbung eine sehr erquickliche. In der That können für einen Leser dieser Art wenig Dinge beunruhigender sein, als wenn er findet, daß seine kleine Heimath, wo er so gemüthlich und absolut lebte, im Grunde genommen nicht das ganze Universum ist; daß jenseits des Berges, welcher sein Haus vor dem Westwind schützte und seine Küchengewächse so fröhlich gedeihen ließ, es auch noch andere Berge und Dörfer, ja sogar ganze Gebirgsketten und große Städte giebt, mit welchen allen, wenn er noch ferner für einen Geographen gelten will, er sich sofort bekannt machen muß.

Nun aber ist dieser Recensent, oft noch oben darein sein Landsmann, ein zuverlässiger Mensch, der ihn freundlich auf die Spitze des Berges führt und ihm zeigt, daß in der That noch andere Regionen und zwar von unermeßlicher Ausdehnung vorhanden sind oder zu sein scheinen, aber nur mit Wolkengebirgen und Fatamorgana-Städten, denn die ganze Region ist nach seiner Meinung weiter nichts, als ein leerer Raum oder im besten Falle eine von Greifen und Chimären bewohnte steinige Wüste.

Allerdings, wenn das Schreiben nicht, eben so wie die Sprache der Höflinge, die Kunst ist, die Gedanken zu verbergen, so ist dies alles sehr tadelnswerth. Ist es denn die wirkliche Aufgabe des Recensenten, ein Kuppler der Trägheit, des Dünkels und aller Arten verächtlicher Dummheit von Seiten seines Lesers zu sein, diese Neigungen sorgfältig zu pflegen und

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vorsichtig alles abzuwehren, was mit störenden Neuigkeiten in dieses Narrenparadies hereinbrechen könnte? Ist er der Priester der Literatur und Philosophie, um ihre Geheimnisse dem gemeinen Mann als treuer Prediger auszudeuten, ihn verstehen zu lehren, was seiner Fassungskraft angemessen ist, und ihm Ehrfurcht vor dem beizubringen, was einer höheren Intelligenz als der seinen vorbehalten bleibt? Oder ist er blos der Lakai des Stumpfsinnes, der sich für einen gewissen monatlichen oder vierteljährlichen Lohn bemüht, das Reich der Anmaßung und Trivialität auf Erden zu verewigen? Und wenn er das letztere ist, wäre ihm dann nicht zu rathen, sich die Sache einen Augenblick zu überlegen und ernsthaft nachzudenken, ob verhungern schlimmer oder besser wäre, als ein solches Hundedasein?

Unser Leser bemerkt, daß wir gesonnen sind, in Bezug auf Novalis die zweite Methode zu befolgen; daß wir diesen hochbegabten Mann nicht zu beleidigen, sondern uns einige nähere Kenntniß von ihm zu verschaffen wünschen; daß wir seine Art zu sein und zu denken sehr sonderbar, aber deswegen keineswegs verächtlich finden, daß wir sie vielmehr als einen Gegenstand betrachten, welcher der Prüfung werth, dessen weise und nutzenbringende Prüfung aber ungemein schwierig ist.

Es möge daher Niemand erwarten, daß ihm im vorliegenden Falle ein geblendeter und gefesselter Simson vorgeführt werde, um ihm Kurzweil zu bereiten. Ja, es möchte dies in geistiger Beziehung dem kleinen Manne selbst zum Tode, wenigstens zu einem unersetzlichen Schaden gereichen. Denn ist nicht diese Gewohnheit, jede Größe hämisch zu betrachten und sie mit Gewalt auf seine eigene Höhe herunterzubringen, ein Hauptgrund, welcher diese Höhe auf ihrer unbedeutenden Stufe erhält?

Komme daraus was da wolle – wir haben hier an dieser Stelle keinen erfrischenden Thau für die Eitelkeit des kleinen Mannes; ja, als mitleidige Brüder und Mitkranke an demselben Uebel möchten wir gern die Sichel an jenen Binsenhain des Dünkels legen, der um ihn herum emporgewuchert ist und denselben vollständig hinwegmähen, damit die wahre Gestalt der Welt und seine eigene wahre Gestalt ihm nicht länger vollständig verborgen bleibe. Weigert sich unser Bruder nun, uns unter diesen Verhältnissen zu begleiten? Dann möge er mit unsern guten Wünschen zufrieden sein und an seinem Heerde sitzen bleiben.

Den redlichen Wenigen, welche aber dennoch mit uns gehen, müssen wir auf Antrieb unseres Gerechtigkeitsgefühles sagen, daß wir, weit ent-

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fernt, auf Novalis herabzublicken, weder sie noch uns selbst auf gleiche Stufe mit ihm stellen können. Eine so seltsame Individualität zu erklären, einen in jeder Beziehung so fremdartigen Geist von dieser Tiefe und Eigenthümlichkeit einer genauen Kritik unterwerfen zu wollen, würde von unserer Seite eine eitle Ueberhebung sein.

Bei dem besten Willen und nach wiederholten Versuchen haben wir selbst nur erst einen schwachen Begriff von Novalis gewonnen. Seine Schriften werden uns unter sehr ungünstigen Umständen bekannt, denn sie sind die nachgelassenen Werke eines in der Blüthe seiner Jahre vom Tode dahingerafften Mannes, während seine Ansichten, weit entfernt für das öffentliche Auge gereift zu sein, noch roh und unzusammenhängend vor dem seinen lagen. Meistentheils hatte er sie in der Form einzelner Aphorismen niedergeschrieben. Allerdings war keiner dieser Gedanken, wie er auch selbst sagt, für ihn selbst unwahr oder unwichtig, wohl aber bedurften sie, so wie der Stoff sich mehr und mehr zur logischen Einheit abklärte, der Umformung, Erweiterung und Zusammenziehung. Sie waren nichts als Fragmente eines großen Planes, dessen Verwirklichung die ihm gesetzte Lebensfrist nicht gestattete.

Wenn seine Herausgeber, Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, sich nicht dazu verstanden haben, einen Commentar zu diesen Schriften zu liefern, so ist dies vollkommen zu entschuldigen. »Es kann hier nicht unsere Absicht sein,« sagt Tieck, »nachfolgende Werke zu empfehlen, oder zu beurtheilen, weil es wohl möglich sein dürfte, daß jedes Urtheil, was schon jetzt hervorträte, ein zu frühzeitiges und unreifes wäre; denn ein Geist von dieser Originalität muß erst begriffen, sein Wollen verstanden und seine liebevolle Absicht gefühlt und erwiedert sein, so daß wir wohl erst, wenn seine Ideen andere Geister befruchtet und neue Ideen erzeugt haben, aus dem geschichtlichen Zusammenhange sehen können, wo er selber stand und wie er sich zu seinem Zeitalter verhielt.«

Novalis ist eine so bedeutende Person in der deutschen Literatur, daß Niemand, der dieselbe studirt, achtlos an ihm vorübergehen darf. Wenn wir nicht versuchen dürfen, seine Werke unsern Lesern zu erklären, so sind wir wenigstens verbunden, sie auf die Existenz derselben aufmerksam zu machen, und Denen, welche sich für die Sache interessiren, so gut wir es vermögen, zu zeigen, wie sie ihre Forschungen selbst weiter fortsetzen können.

Zu diesem Zwecke wird es gerathen sein, wenn wir unsern Autor

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hauptsächlich für sich selbst sprechen lassen und nur die Bemerkungen hinzufügen, welche zum selbst wörtlichen Verständniß unentbehrlich sind, und für deren Richtigkeit wir mit vollkommener Zuversicht bürgen können.

Um unserer ganzen Darstellung eine Basis zu geben, schicken wir einige nähere Angaben über das kurze Leben unseres Autors voraus, – eine Aufgabe, die uns durch Tieck's lichtvolle und anmuthige Erzählung, welche er als Vorrede zur dritten Auflage mittheilt, wesentlich erleichtert wird.

zurck
Vorbemerkung
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[II.]


 


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Letzte Änderung am 04.12.2004.
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