[10. Absatz]
Man steht mit der Natur gerade in so unbegreiflich
verschiedenen Verhältnissen, wie mit den Menschen;
und wie sie sich dem Kinde kindisch zeigt, und
sich gefällig seinem kindlichen Herzen anschmiegt,
so zeigt sie sich dem Gotte göttlich, und stimmt
zu dessen hohem Geiste. Man kann nicht sagen, daß
es eine Natur gebe, ohne etwas Überschwengliches
zu sagen, und alles Bestreben nach Wahrheit in den
Reden und Gesprächen von der Natur entfernt nur
immer mehr von der Natürlichkeit. Es ist schon
viel gewonnen, wenn das Streben, die Natur
vollständig zu begreifen, zur Sehnsucht sich
veredelt, zur zarten, bescheidnen Sehnsucht, die
sich das fremde, kalte Wesen gern gefallen läßt,
wenn sie nur einst auf vertrauteren Umgang rechnen
kann. Es ist ein geheimnisvoller Zug nach allen
Seiten in unserm Innern, aus einem unendlich
tiefen Mittelpunkt sich rings verbreitend. Liegt
nun die wundersame sinnliche und unsinnliche Natur
rund um uns her, so glauben wir es sei jener Zug
ein Anziehn der Natur, eine Äußerung unsrer
Sympathie mit ihr: nur sucht der eine hinter
diesen blauen, fernen Gestalten noch eine Heimat,
die sie ihm verhüllen, eine Geliebte seiner
Jugend, Eltern und Geschwister, alte Freunde,
liebe Vergangenheiten; der andre meint, da
jenseits warteten unbekannte Herrlichkeiten
seiner, eine lebensvolle Zukunft glaubt er
dahinter versteckt, und streckt verlangend seine
Hände einer neuen Welt entgegen. Wenige bleiben
bei dieser herrlichen Umgebung ruhig stehen, und
suchen sie nur selbst in ihrer Fülle und ihrer
Verkettung zu erfassen, vergessen über der
Vereinzelung den blitzenden Faden nicht, der
reihenweise die Glieder knüpft und den heiligen
Kronleuchter bildet, und finden sich beseligt in
der Beschauung dieses lebendigen, über nächtlichen
Tiefen schwebenden Schmucks. So entstehn
mannigfache Naturbetrachtungen, und wenn an einem
Ende die Naturempfindung ein lustiger Einfall,
eine Mahlzeit wird, so sieht man sie dort zur
andächtigsten Religion verwandelt, einem ganzen
Leben Richtung, Haltung und Bedeutung geben. Schon
unter den kindlichen Völkern gabs solche ernste
Gemüter, denen die Natur das Antlitz einer
Gottheit war, indessen andre fröhliche Herzen sich
nur auf sie zu Tische baten; die Luft war ihnen
ein erquickender Trank, die Gestirne Lichter zum
nächtlichen Tanz, und Pflanzen und Tiere nur
köstliche Speisen, und so kam ihnen die Natur
nicht wie ein stiller, wundervoller Tempel,
sondern wie eine lustige Küche und Speisekammer
vor. Dazwischen waren andre sinnigere Seelen, die
in der gegenwärtigen Natur nur große, aber
verwilderte Anlagen bemerkten, und Tag und Nacht
beschäftiget waren, Vorbilder einer edleren Natur
zu schaffen. – Sie teilten sich gesellig in das
große Werk, die einen suchten die verstummten und
verlornen Töne in Luft und Wäldern zu erwecken,
andre legten ihre Ahndungen und Bilder schönerer
Geschlechter in Erz und Steine nieder, bauten
schönere Felsen zu Wohnungen wieder, brachten die
verborgenen Schätze aus den Grüften der Erde
wieder ans Licht; zähmten die ausgelassenen
Ströme, bevölkerten das unwirtliche Meer, führten
in öde Zonen alte, herrliche Pflanzen und Tiere
zurück, hemmten die Waldüberschwemmungen, und
pflegten die edleren Blumen und Kräuter, öffneten
die Erde den belebenden Berührungen der zeugenden
Luft und des zündenden Lichts, lehrten die Farben
zu reizenden Bildungen sich mischen und ordnen,
und Wald und Wiese, Quellen und Felsen wieder zu
lieblichen Gärten zusammenzutreten, hauchten in
die lebendigen Glieder Töne, um sie zu entfalten,
und in heitern Schwingungen zu bewegen, nahmen
sich der armen, verlaßnen, für Menschensitte
empfänglichen Tiere an, und säuberten die Wälder
von den schädlichen Ungeheuern, diesen Mißgeburten
einer entarteten Phantasie. Bald lernte die Natur
wieder freundlichere Sitten, sie ward sanfter und
erquicklicher, und ließ sich willig zur
Beförderung der menschlichen Wünsche finden.
Allmählich fing ihr Herz wieder an menschlich sich
zu regen, ihre Phantasien wurden heitrer, sie ward
wieder umgänglich, und antwortete dem freundlichen
Frager gern, und so scheint allmählich die alte
goldne Zeit zurückzukommen, in der sie den
Menschen Freundin, Trösterin, Priesterin und
Wundertäterin war, als sie unter ihnen wohnte und
ein himmlischer Umgang die Menschen zu
Unsterblichen machte. Dann werden die Gestirne die
Erde wieder besuchen, der sie gram geworden waren
in jenen Zeiten der Verfinsterung; dann legt die
Sonne ihren strengen Zepter nieder, und wird
wieder Stern unter Sternen, und alle Geschlechter
der Welt kommen dann nach langer Trennung wieder
zusammen. Dann finden sich die alten verwaisten
Familien, und jeder Tag sieht neue Begrüßungen,
neue Umarmungen; dann kommen die ehemaligen
Bewohner der Erde zu ihr zurück, in jedem Hügel
regt sich neu erglimmende Asche, überall lodern
Flammen des Lebens empor, alte Wohnstätten werden
neu erbaut, alte Zeiten erneuert, und die
Geschichte wird zum Traum einer unendlichen,
unabsehlichen Gegenwart.
(RUB 7991, S. 68–71)
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