2. Die Natur
[9. Absatz]
Es mag lange gedauert haben, ehe die Menschen
darauf dachten, die mannigfachen Gegenstände ihrer
Sinne mit einem gemeinschaftlichen Namen zu
bezeichnen und sich entgegen zu setzen. Durch
Übung werden Entwickelungen befördert, und in
allen Entwickelungen gehen Teilungen,
Zergliederungen vor, die man bequem mit den
Brechungen des Lichtstrahls vergleichen kann. So
hat sich auch nur allmählich unser Innres in so
mannigfaltige Kräfte zerspaltet, und mit
fortdauernder Übung wird auch diese Zerspaltung
zunehmen. Vielleicht ist es nur krankhafte Anlage
der späteren Menschen, wenn sie das Vermögen
verlieren, diese zerstreuten Farben ihres Geistes
wieder zu mischen und nach Belieben den alten
einfachen Naturstand herzustellen, oder neue,
mannigfaltige Verbindungen unter ihnen zu
bewirken. Je vereinigter sie sind, desto
vereinigter, desto vollständiger und persönlicher
fließt jeder Naturkörper, jede Erscheinung in sie
ein: denn der Natur des Sinnes entspricht die
Natur des Eindrucks, und daher mußte jenen
früheren Menschen alles menschlich, bekannt und
gesellig vorkommen, die frischeste
Eigentümlichkeit mußte in ihren Ansichten sichtbar
werden, jede ihrer Äußerungen war ein wahrer
Naturzug, und ihre Vorstellungen mußten mit der
sie umgebenden Welt übereinstimmen, und einen
treuen Ausdruck derselben darstellen. Wir können
daher die Gedanken unsrer Altväter von den Dingen
in der Welt als ein notwendiges Erzeugnis, als
eine Selbstabbildung des damaligen Zustandes der
irdischen Natur betrachten, und besonders an
ihnen, als den schicklichsten Werkzeugen der
Beobachtung des Weltalls, das Hauptverhältnis
desselben, das damalige Verhältnis zu seinen
Bewohnern, und seiner Bewohner zu ihm, bestimmt
abnehmen. Wir finden, daß gerade die erhabensten
Fragen zuerst ihre Aufmerksamkeit beschäftigten,
und daß sie den Schlüssel dieses wundervollen
Gebäudes bald in einer Hauptmasse der wirklichen
Dinge, bald in dem erdichteten Gegenstande eines
unbekannten Sinns aufsuchten. Bemerklich ist hier
die gemeinschaftliche Ahndung desselben im
Flüssigen, im Dünnen, Gestaltlosen. Es mochte wohl
die Trägheit und Unbehülflichkeit der festen
Körper den Glauben an ihre Abhängigkeit und
Niedrigkeit nicht ohne Bedeutung veranlassen. Früh
genug stieß jedoch ein grübelnder Kopf auf die
Schwierigkeit der Gestalten-Erklärung aus jenen
gestaltlosen Kräften und Meeren. Er versuchte den
Knoten durch eine Art von Vereinigung zu lösen,
indem er die ersten Anfänge zu festen, gestalteten
Körperchen machte, die er jedoch über allen
Begriff klein annahm, und nun aus diesem
Staubmeere, aber freilich nicht ohne Beihülfe
mitwirkender Gedankenwesen, anziehender und
abstoßender Kräfte, den ungeheuern Bau vollführen
zu können meinte. Noch früher findet man statt
wissenschaftlicher Erklärungen, Märchen und
Gedichte voll merkwürdiger bildlicher Züge,
Menschen, Götter und Tiere als gemeinschaftliche
Werkmeister, und hört auf die natürlichste Art die
Entstehung der Welt beschreiben. Man erfährt
wenigstens die Gewißheit eines zufälligen,
werkzeuglichen Ursprungs derselben, und auch für
den Verächter der regellosen Erzeugnisse der
Einbildungskraft ist diese Vorstellung bedeutend
genug. Die Geschichte der Welt als
Menschengeschichte zu behandeln, überall nur
menschliche Begebenheiten und Verhältnisse zu
finden, ist eine fortwandernde, in den
verschiedensten Zeiten wieder mit neuer Bildung
hervortretende Idee geworden, und scheint an
wunderbarer Wirkung, und leichter Überzeugung
beständig den Vorrang gehabt zu haben. Auch
scheint die Zufälligkeit der Natur sich wie von
selbst an die Idee menschlicher Persönlichkeit
anzuschließen, und letztere am willigsten, als
menschliches Wesen verständlich zu werden. Daher
ist auch wohl die Dichtkunst das liebste Werkzeug
der eigentlichen Naturfreunde gewesen, und am
hellsten ist in Gedichten der Naturgeist
erschienen. Wenn man echte Gedichte liest und
hört, so fühlt man einen innern Verstand der Natur
sich bewegen, und schwebt, wie der himmlische Leib
derselben, in ihr und über ihr zugleich.
Naturforscher und Dichter haben durch Eine Sprache
sich immer wie Ein Volk gezeigt. Was jene im
ganzen sammelten und in großen, geordneten Massen
aufstellten, haben diese für menschliche Herzen
zur täglichen Nahrung und Notdurft verarbeitet,
und jene unermeßliche Natur zu mannigfaltigen,
kleinen, gefälligen Naturen zersplittert und
gebildet. Wenn diese mehr das Flüssige und
Flüchtige mit leichtem Sinn verfolgten, suchten
jene mit scharfen Messerschnitten den innern Bau
und die Verhältnisse der Glieder zu erforschen.
Unter ihren Händen starb die freundliche Natur,
und ließ nur tote, zuckende Reste zurück, dagegen
sie vom Dichter, wie durch geistvollen Wein, noch
mehr beseelt, die göttlichsten und muntersten
Einfälle hören ließ, und über ihr Alltagsleben
erhoben, zum Himmel stieg, tanzte und weissagte,
jeden Gast willkommen hieß, und ihre Schätze
frohen Muts verschwendete. So genoß sie himmlische
Stunden mit dem Dichter, und lud den Naturforscher
nur dann ein, wenn sie krank und gewissenhaft war.
Dann gab sie ihm Bescheid auf jede Frage, und
ehrte gern den ernsten, strengen Mann. Wer also
ihr Gemüt recht kennen will, muß sie in der
Gesellschaft der Dichter suchen, dort ist sie
offen und ergießt ihr wundersames Herz. Wer sie
aber nicht aus Herzensgrunde liebt, und dies und
jenes nur an ihr bewundert, und zu erfahren
strebt, muß ihre Krankenstube, ihr Beinhaus
fleißig besuchen.
(RUB 7991, S. 65–68)
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