[164. Absatz]
›Was ist aus dir geworden, liebe Mutter?‹ sagte
Fabel, ›du scheinst mir gänzlich verändert; ohne
inneres Anzeichen hätt ich dich nicht erkannt.
ich hoffte mich an deiner Brust einmal wieder zu
erquicken; ich habe lange nach dir geschmachtet.‹
Ginnistan liebkoste sie zärtlich, und sah heiter
und freundlich aus. ›Ich dachte es gleich‹, sagte
sie, ›daß dich der Schreiber nicht würde gefangen
haben. Dein Anblick erfrischt mich. Es geht mir
schlimm und knapp genug, aber ich tröste mich
bald. Vielleicht habe ich einen Augenblick Ruhe.
Eros ist in der Nähe, und wenn er dich sieht, und
du ihm vorplauderst, verweilt er vielleicht einige
Zeit. Indes kannst du dich an meine Brust legen;
ich will dir geben, was ich habe.‹ Sie nahm die
Kleine auf den Schoß, reichte ihr die Brust, und
fuhr fort, indem sie lächelnd auf die Kleine
hinuntersah, die es sich gut schmecken ließ. ›Ich
bin selbst Ursach, daß Eros so wild und
unbeständig geworden ist. Aber mich reut es
dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich in
seinen Armen zubrachte, haben mich zur
Unsterblichen gemacht. Ich glaubte unter seinen
feurigen Liebkosungen zu zerschmelzen. Wie ein
himmlischer Räuber schien er mich grausam
vernichten und stolz über sein bebendes Opfer
triumphieren zu wollen. Wir erwachten spät aus dem
verbotenen Rausche, in einem sonderbar
vertauschten Zustande. Lange silberweiße Flügel
bedeckten seine weißen Schultern, und die reizende
Fülle und Biegung seiner Gestalt. Die Kraft, die
ihn so plötzlich aus einem Knaben zum Jünglinge
quellend getrieben, schien sich ganz in die
glänzenden Schwingen gezogen zu haben, und er war
wieder zum Knaben geworden. Die stille Glut seines
Gesichts war in das tändelnde Feuer eines
Irrlichts, der heilige Ernst in verstellte
Schalkheit, die bedeutende Ruhe in kindische
Unstetigkeit, der edle Anstand in drollige
Beweglichkeit verwandelt. Ich fühlte mich von
einer ernsthaften Leidenschaft unwiderstehlich zu
dem mutwilligen Knaben gezogen, und empfand
schmerzlich seinen lächelnden Hohn, und seine
Gleichgültigkeit gegen meine rührendsten Bitten.
Ich sah meine Gestalt verändert. Meine sorglose
Heiterkeit war verschwunden, und hatte einer
traurigen Bekümmernis, einer zärtlichen
Schüchternheit Platz gemacht. Ich hätte mich mit
Eros vor allen Augen verbergen mögen. Ich hatte
nicht das Herz in seine beleidigenden Augen zu
sehn, und fühlte mich entsetzlich beschämt und
erniedrigt. Ich hatte keinen andern Gedanken, als
ihn, und hätte mein Leben hingegeben, um ihn von
seinen Unarten zu befreien. Ich mußte ihn anbeten,
so tief er auch alle meine Empfindungen kränkte.
(RUB 8939, S. 138–139)
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