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Der Einsiedler fragte seine Gäste nach ihrem
Vaterlande, und wie sie in diese Gegenden gekommen
wären. Er war sehr freundlich und offen, und
verriet eine große Bekanntschaft mit der Welt. Der
Alte sagte: »Ich sehe, Ihr seid ein Kriegsmann
gewesen, die Rüstung verrät Euch.« – »Die Gefahren
und Wechsel des Krieges, der hohe poetische Geist,
der ein Kriegsheer begleitet, rissen mich aus
meiner jugendlichen Einsamkeit und bestimmten die
Schicksale meines Lebens. Vielleicht, daß das
lange Getümmel, die unzähligen Begebenheiten,
denen ich beiwohnte, mir den Sinn für die
Einsamkeit noch mehr geöffnet haben: die zahllosen
Erinnerungen sind eine unterhaltende Gesellschaft,
und dies um so mehr, je veränderter der Blick ist,
mit dem wir sie überschauen, und der nun erst
ihren wahren Zusammenhang, den Tiefsinn ihrer
Folge, und die Bedeutung ihrer Erscheinungen
entdeckt. Der eigentliche Sinn für die Geschichte
der Menschen entwickelt sich erst spät, und mehr
unter den stillen Einflüssen der Erinnerung, als
unter den gewaltsameren Eindrücken der Gegenwart.
Die nächsten Ereignisse scheinen nur locker
verknüpft, aber sie sympathisieren desto
wunderbarer mit entfernteren; und nur dann, wenn
man imstande ist, eine lange Reihe zu übersehn und
weder alles buchstäblich zu nehmen, noch auch mit
mutwilligen Träumen die eigentliche Ordnung zu
verwirren, bemerkt man die geheime Verkettung des
Ehemaligen und Künftigen, und lernt die Geschichte
aus Hoffnung und Erinnerung zusammensetzen. Indes
nur dem, welchem die ganze Vorzeit gegenwärtig
ist, mag es gelingen, die einfache Regel der
Geschichte zu entdecken. Wir kommen nur zu
unvollständigen und beschwerlichen Formeln, und
können froh sein, nur für uns selbst eine
brauchbare Vorschrift zu finden, die uns
hinlängliche Aufschlüsse über unser eigenes kurzes
Leben verschafft. Ich darf aber wohl sagen, daß
jede sorgfältige Betrachtung der Schicksale des
Lebens einen tiefen, unerschöpflichen Genuß
gewährt, und unter allen Gedanken uns am meisten
über die irdischen Übel erhebt. Die Jugend liest
die Geschichte nur aus Neugier, wie ein
unterhaltendes Märchen; dem reiferen Alter wird
sie eine himmlische tröstende und erbauende
Freundin, die ihn durch ihre weisen Gespräche
sanft zu einer höheren, umfassenderen Laufbahn
vorbereitet, und mit der unbekannten Welt ihn in
faßlichen Bildern bekannt macht. Die Kirche ist
das Wohnhaus der Geschichte, und der stille Hof
ihr sinnbildlicher Blumengarten. Von der
Geschichte sollten nur alte, gottesfürchtige Leute
schreiben, deren Geschichte selbst zu Ende ist,
und die nichts mehr zu hoffen haben, als die
Verpflanzung in den Garten. Nicht finster und
trübe wird ihre Beschreibung sein; vielmehr wird
ein Strahl aus der Kuppel alles in der richtigsten
und schönsten Erleuchtung zeigen, und heiliger
Geist wird über diesen seltsam bewegten Gewässern
schweben.«
(RUB 8939, S. 82–83)
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