[65. Absatz]
Der Alte schien ihnen keinen großen Glauben
beizumessen, und versicherte lachend, daß sie
unter dem Schutze eines Bergmanns getrost mitgehn
könnten, indem die Ungeheuer sich vor ihm scheuen
müßten, ein singender Geist aber gewiß ein
wohltätiges Wesen sei. Die Neugier machte viele
beherzt genug, seinen Vorschlag einzugehn; auch
Heinrich wünschte ihn zu begleiten, und seine
Mutter gab endlich auf das Zureden und Versprechen
des Alten, genaue Acht auf Heinrichs Sicherheit zu
haben, seinen Bitten nach. Die Kaufleute waren
ebenso entschlossen. Es wurden lange Kienspäne zu
Fackeln zusammengeholt; ein Teil der Gesellschaft
versah sich noch zum Überfluß mit Leitern,
Stangen, Stricken und allerhand
Verteidigungswerkzeugen, und so begann endlich die
Wallfahrt nach den nahen Hügeln. Der Alte ging mit
Heinrich und den Kaufleuten voran. Jener Bauer
hatte seinen wißbegierigen Sohn herbeigeholt, der
voller Freude sich einer Fackel bemächtigte, und
den Weg zu den Höhlen zeigte. Der Abend war heiter
und warm. Der Mond stand in mildem Glanze über den
Hügeln, und ließ wunderliche Träume in allen
Kreaturen aufsteigen. Selbst wie ein Traum der
Sonne, lag er über der in sich gekehrten
Traumwelt, und führte die in unzählige Grenzen
geteilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück,
wo jeder Keim noch für sich schlummerte, und
einsam und unberührt sich vergeblich sehnte, die
dunkle Fülle seines unermeßlichen Daseins zu
entfalten. In Heinrichs Gemüt spiegelte sich das
Märchen des Abends. Es war ihm, als ruhte die Welt
aufgeschlossen in ihm, und zeigte ihm, wie einem
Gastfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen
Lieblichkeiten. Ihm dünkte die große einfache
Erscheinung um ihn so verständlich. Die Natur
schien ihm nur deswegen so unbegreiflich, weil sie
das Nächste und Traulichste mit einer solchen
Verschwendung von mannigfachen Ausdrücken um den
Menschen her türmte. Die Worte des Alten hatten
eine versteckte Tapetentür in ihm geöffnet. Er sah
sein kleines Wohnzimmer dicht an einen erhabenen
Münster gebaut, aus dessen steinernem Boden die
ernste Vorwelt emporstieg, während von der Kuppel
die klare fröhliche Zukunft in goldnen
Engelskindern ihr singend entgegenschwebte.
Gewaltige Klänge bebten in den silbernen Gesang,
und zu den weiten Toren traten alle Kreaturen
herein, von denen jede ihre innere Natur in einer
einfachen Bitte und in einer eigentümlichen
Mundart vernehmlich aussprach. Wie wunderte er
sich, daß ihm diese klare, seinem Dasein schon
unentbehrliche Ansicht so lange fremd geblieben
war. Nun übersah er auf einmal alle seine
Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her;
fühlte was er durch sie geworden und was sie ihm
werden würde, und begriff alle die seltsamen
Vorstellungen und Anregungen, die er schon oft in
ihrem Anschauen gespürt hatte. Die Erzählung der
Kaufleute von dem Jünglinge, der die Natur so
emsig betrachtete, und der Eidam des Königs wurde,
kam ihm wieder zu Gedanken, und tausend andere
Erinnerungen seines Lebens knüpften sich von
selbst an einen zauberischen Faden. Während der
Zeit, daß Heinrich seinen Betrachtungen nachhing,
hatte sich die Gesellschaft der Höhle genähert.
Der Eingang war niedrig, und der Alte nahm eine
Fackel und kletterte über einige Steine zuerst
hinein. Ein ziemlich fühlbarer Luftstrom kam ihm
entgegen, und der Alte versicherte, daß sie
getrost folgen könnten. Die Furchtsamsten gingen
zuletzt, und hielten ihre Waffen in Bereitschaft.
Heinrich und die Kaufleute waren hinter dem Alten
und der Knabe wanderte munter an seiner Seite. Der
Weg lief anfänglich in einem ziemlich schmalen
Gange, welcher sich aber bald in eine sehr weite
und hohe Höhle endigte, die der Fackelglanz nicht
völlig zu erleuchten vermochte; doch sah man im
Hintergrunde einige Öffnungen sich in die
Felsenwand verlieren. Der Boden war weich und
ziemlich eben; die Wände sowie die Decke waren
ebenfalls nicht rauh und unregelmäßig; aber was
die Aufmerksamkeit aller vorzüglich beschäftigte,
war die unzählige Menge von Knochen und Zähnen,
die den Boden bedeckten. Viele waren völlig
erhalten, an andern sah man Spuren der Verwesung,
und die, welche aus den Wänden hin und wieder
hervorragten, schienen steinartig geworden zu
sein. Die meisten waren von ungewöhnlicher Größe
und Stärke. Der Alte freute sich über diese
Überbleibsel einer uralten Zeit; nur den Bauern
war nicht wohl dabei zumute, denn sie hielten sie
für deutliche Spuren naher Raubtiere, so
überzeugend ihnen auch der Alte die Zeichen eines
undenklichen Altertums daran aufwies, und sie
fragte, ob sie je etwas von Verwüstungen unter
ihren Herden und vom Raube benachbarter Menschen
gespürt hätten, und ob sie jene Knochen für Knochen
bekannter Tiere oder Menschen halten könnten? Der
Alte wollte nun weiter in den Berg, aber die
Bauern fanden für ratsam sich vor die Höhle
zurückzuziehn, und dort seine Rückkunft
abzuwarten. Heinrich, die Kaufleute und der Knabe
blieben bei dem Alten, und versahen sich mit
Stricken und Fackeln. Sie gelangten bald in eine
zweite Höhle, wobei der Alte nicht vergaß, den
Gang aus dem sie hereingekommen waren, durch eine
Figur von Knochen, die er davor hinlegte, zu
bezeichnen. Die Höhle glich der vorigen und war
ebenso reich an tierischen Resten. Heinrichen war
schauerlich und wunderbar zumute; es gemahnte ihn,
als wandle er durch die Vorhöfe des innern
Erdenpalastes. Himmel und Leben lag ihm auf einmal
weit entfernt, und diese dunkeln weiten Hallen
schienen zu einem unterirdischen seltsamen Reiche
zu gehören. »Wie«, dachte er bei sich selbst,
»wäre es möglich, daß unter unsern Füßen eine
eigene Welt in einem ungeheuern Leben sich
bewegte? daß unerhörte Geburten in den Vesten der
Erde ihr Wesen trieben, die das innere Feuer des
dunkeln Schoßes zu riesenmäßigen und
geistesgewaltigen Gestalten auftriebe? Könnten
dereinst diese schauerlichen Fremden, von der
eindringenden Kälte hervorgetrieben, unter uns
erscheinen, während vielleicht zu gleicher Zeit
himmlische Gäste, lebendige, redende Kräfte der
Gestirne über unsern Häuptern sichtbar würden?
Sind diese Knochen Überreste ihrer Wanderungen
nach der Oberfläche, oder Zeichen einer Flucht in
die Tiefe?«
(RUB 8939, S. 75–78)
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