[30. Absatz]
Nicht weit von der Hauptstadt lebte auf einem
abgelegenen Landgute ein alter Mann, der sich
ausschließlich mit der Erziehung seines einzigen
Sohnes beschäftigte, und nebenher den Landleuten
in wichtigen Krankheiten Rat erteilte. Der junge
Mensch war ernst und ergab sich einzig der
Wissenschaft der Natur, in welcher ihn sein Vater
von Kindheit auf unterrichtete. Aus fernen
Gegenden war der Alte vor mehreren Jahren in dies
friedliche und blühende Land gezogen, und begnügte
sich den wohltätigen Frieden, den der König um
sich verbreitete, in der Stille zu genießen. Er
benutzte sie, die Kräfte der Natur zu erforschen,
und diese hinreißenden Kenntnisse seinem Sohne
mitzuteilen, der viel Sinn dafür verriet und
dessen tiefem Gemüt die Natur bereitwillig ihre
Geheimnisse anvertraute. Die Gestalt des jungen
Menschen schien gewöhnlich und unbedeutend, wenn
man nicht einen höhern Sinn für die geheimere
Bildung seines edlen Gesichts und die
ungewöhnliche Klarheit seiner Augen mitbrachte. Je
länger man ihn ansah, desto anziehender ward er,
und man konnte sich kaum wieder von ihm trennen,
wenn man seine sanfte, eindringende Stimme und
seine anmutige Gabe zu sprechen hörte. Eines Tages
hatte die Prinzessin, deren Lustgärten an den Wald
stießen, der das Landgut des Alten in einem
kleinen Tale verbarg, sich allein zu Pferde in den
Wald begeben, um desto ungestörter ihren
Phantasien nachhängen und einige schöne Gesänge
sich wiederholen zu können. Die Frische des hohen
Waldes lockte sie immer tiefer in seine Schatten,
und so kam sie endlich an das Landgut, wo der Alte
mit seinem Sohne lebte. Es kam ihr die Lust an,
Milch zu trinken, sie stieg ab, band ihr Pferd an
einen Baum, und trat in das Haus, um sich einen
Trunk Milch auszubitten. Der Sohn war gegenwärtig,
und erschrak beinah über diese zauberhafte
Erscheinung eines majestätischen weiblichen
Wesens, das mit allen Reizen der Jugend und
Schönheit geschmückt, und von einer
unbeschreiblich anziehenden Durchsichtigkeit der
zartesten, unschuldigsten und edelsten Seele
beinah vergöttlicht wurde. Während er eilte ihre
wie Geistergesang tönende Bitte zu erfüllen, trat
ihr der Alte mit bescheidner Ehrfurcht entgegen,
und lud sie ein, an dem einfachen Herde, der
mitten im Hause stand, und auf welchem eine
leichte blaue Flamme ohne Geräusch emporspielte,
Platz zu nehmen. Es fiel ihr, gleich beim
Eintritt, der mit tausend seltenen Sachen gezierte
Hausraum, die Ordnung und Reinlichkeit des Ganzen,
und eine seltsame Heiligkeit des Ortes auf, deren
Eindruck noch durch den schlicht gekleideten
ehrwürdigen Greis und den bescheidnen Anstand des
Sohnes erhöhet wurde. Der Alte hielt sie gleich
für eine zum Hof gehörige Person, wozu ihre
kostbare Tracht, und ihr edles Betragen ihm Anlaß
genug gab. Während der Abwesenheit des Sohnes
befragte sie ihn um einige Merkwürdigkeiten, die
ihr vorzüglich in die Augen fielen, worunter
besonders einige alte, sonderbare Bilder waren,
die neben ihrem Sitze auf dem Herde standen, und
er war bereitwillig sie auf eine anmutige Art
damit bekannt zu machen. Der Sohn kam bald mit
einem Kruge voll frischer Milch zurück, und
reichte ihr denselben mit ungekünsteltem und
ehrfurchtsvollem Wesen. Nach einigen anziehenden
Gesprächen mit beiden, dankte sie auf die
lieblichste Weise für die freundliche Bewirtung,
bat errötend den Alten um die Erlaubnis
wieder kommen, und seine lehrreichen Gespräche über
die vielen wunderbaren Sachen genießen zu dürfen,
und ritt zurück, ohne ihren Stand verraten zu
haben, da sie merkte, daß Vater und Sohn sie nicht
kannten. Ohnerachtet die Hauptstadt so nahe lag,
hatten beide, in ihre Forschungen vertieft, das
Gewühl der Menschen zu vermeiden gesucht, und es
war dem Jüngling nie eine Lust angekommen, den
Festen des Hofes beizuwohnen; besonders da er
seinen Vater höchstens auf eine Stunde zu
verlassen pflegte, um zuweilen im Walde nach
Schmetterlingen, Käfern und Pflanzen umherzugehn,
und die Eingebungen des stillen Naturgeistes durch
den Einfluß seiner mannigfaltigen äußeren
Lieblichkeiten zu vernehmen. Dem Alten, der
Prinzessin und dem Jüngling war die einfache
Begebenheit des Tages gleich wichtig. Der Alte
hatte leicht den neuen tiefen Eindruck bemerkt,
den die Unbekannte auf seinen Sohn machte. Er
kannte diesen genug, um zu wissen, daß jeder tiefe
Eindruck bei ihm ein lebenslänglicher sein würde.
Seine Jugend und die Natur seines Herzens mußten
die erste Empfindung dieser Art zur
unüberwindlichen Neigung machen. Der Alte hatte
lange eine solche Begebenheit herannahen sehen.
Die hohe Liebenswürdigkeit der Erscheinung flößte
ihm unwillkürlich eine innige Teilnahme ein, und
sein zuversichtliches Gemüt entfernte alle
Besorgnisse über die Entwickelung dieses
sonderbaren Zufalls. Die Prinzessin hatte sich nie
in einem ähnlichen Zustande befunden, wie der war,
in welchem sie langsam nach Hause ritt. Es konnte
vor der einzigen helldunklen wunderbar beweglichen
Empfindung einer neuen Welt, kein eigentlicher
Gedanke in ihr entstehen. Ein magischer Schleier
dehnte sich in weiten Falten um ihr klares
Bewußtsein. Es war ihr, als würde sie sich, wenn
er aufgeschlagen würde, in einer überirdischen
Welt befinden. Die Erinnerung an die Dichtkunst,
die bisher ihre ganze Seele beschäftigt hatte, war
zu einem fernen Gesange geworden, der ihren
seltsam lieblichen Traum mit den ehemaligen Zeiten
verband. Wie sie zurück in den Palast kam,
erschrak sie beinah über seine Pracht und sein
buntes Leben, noch mehr aber bei der Bewillkommung
ihres Vaters, dessen Gesicht zum ersten Male in
ihrem Leben eine scheue Ehrfurcht in ihr erregte.
Es schien ihr eine unabänderliche Notwendigkeit,
nichts von ihrem Abenteuer zu erwähnen. Man war
ihre schwärmerische Ernsthaftigkeit, ihren in
Phantasieen und tiefes Sinnen verlornen Blick schon
zu gewohnt, um etwas Außerordentliches darin zu
bemerken. Es war ihr jetzt nicht mehr so lieblich
zumute; sie schien sich unter lauter Fremden, und
eine sonderbare Bänglichkeit begleitete sie bis an
den Abend, wo das frohe Lied eines Dichters, der
die Hoffnung pries, und von den Wundern des
Glaubens an die Erfüllung unsrer Wünsche mit
hinreißender Begeisterung sang, sie mit süßem
Trost erfüllte und in die angenehmsten Träume
wiegte. Der Jüngling hatte sich gleich nach ihrem
Abschiede in den Wald verloren. An der Seite des
Weges war er in Gebüschen bis an die Pforten des
Gartens ihr gefolgt, und dann auf dem Wege
zurückgegangen. Wie er so ging, sah er vor seinen
Füßen einen hellen Glanz. Er bückte sich danach
und hob einen dunkelroten Stein auf, der auf
einer Seite außerordentlich funkelte, und auf der
andern eingegrabene unverständliche Chiffern
zeigte. Er erkannte ihn für einen kostbaren
Karfunkel, und glaubte ihn in der Mitte des
Halsbandes an der Unbekannten bemerkt zu haben. Er
eilte mit beflügelten Schritten nach Hause, als
wäre sie noch dort, und brachte den Stein seinem
Vater. Sie wurden einig, daß der Sohn den andern
Morgen auf den Weg zurückgehn und warten sollte,
ob der Stein gesucht würde, wo er ihn dann
zurückgeben könnte; sonst wollten sie ihn bis zu
einem zweiten Besuche der Unbekannten aufheben, um
ihr selbst ihn zu überreichen. Der Jüngling
betrachtete fast die ganze Nacht den Karfunkel und
fühlte gegen Morgen ein unwiderstehliches
Verlangen, einige Worte auf den Zettel zu
schreiben, in welchen er den Stein einwickelte. Er
wußte selbst nicht genau, was er sich bei den
Worten dachte, die er hinschrieb.
Es ist dem Stein ein rätselhaftes Zeichen
Tief eingegraben in sein glühend Blut,
Er ist mit einem Herzen zu vergleichen,
In dem das Bild der Unbekannten ruht.
Man sieht um jenen tausend Funken streichen,
Um dieses woget eine lichte Flut.
In jenem liegt des Glanzes Licht begraben,
Wird dieses auch das Herz des Herzens haben?
(RUB 8939, S. 33–37)
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