[10. Absatz]
»Erzählt uns doch jenen seltsamen Traum«, sagte
der Sohn. »Ich war eines Abends«, fing der Vater
an, »umhergestreift. Der Himmel war rein, und der
Mond bekleidete die alten Säulen und Mauern mit
seinem bleichen schauerlichen Lichte. Meine
Gesellen gingen den Mädchen nach, und mich trieb
das Heimweh und die Liebe ins Freie. Endlich ward
ich durstig und ging ins erste beste Landhaus
hinein, um einen Trunk Wein oder Milch zu fordern.
Ein alter Mann kam heraus, der mich wohl für einen
verdächtigen Besuch halten mochte. Ich trug ihm
mein Anliegen vor; und als er erfuhr, daß ich ein
Ausländer und ein Deutscher sei, lud er mich
freundlich in die Stube und brachte eine Flasche
Wein. Er hieß mich niedersetzen, und fragte mich
nach meinem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher und
Altertümer. Wir gerieten in ein weitläuftiges
Gespräch; er erzählte mir viel von alten Zeiten,
von Malern, Bildhauern und Dichtern. Noch nie
hatte ich so davon reden hören. Es war mir, als
sei ich in einer neuen Welt ans Land gestiegen. Er
wies mir Siegelsteine und andre alte
Kunstarbeiten; dann las er mir mit lebendigem
Feuer herrliche Gedichte vor, und so verging die
Zeit, wie ein Augenblick. Noch jetzt heitert mein
Herz sich auf, wenn ich mich des bunten Gewühls
der wunderlichen Gedanken und Empfindungen
erinnere, die mich in dieser Nacht erfüllten. In
den heidnischen Zeiten war er wie zu Hause, und
sehnte sich mit unglaublicher Inbrunst in dies
graue Altertum zurück. Endlich wies er mir eine
Kammer an, wo ich den Rest der Nacht zubringen
könnte, weil es schon zu spät sei, um noch
zurückzukehren. Ich schlief bald, und da dünkte
michs ich sei in meiner Vaterstadt und wanderte
aus dem Tore. Es war, als müßte ich irgendwohin
gehn, um etwas zu bestellen, doch wußte ich nicht
wohin, und was ich verrichten solle. Ich ging nach
dem Harze mit überaus schnellen Schritten, und
wohl war mir, als sei es zur Hochzeit. Ich hielt
mich nicht auf dem Wege, sondern immer feldein
durch Tal und Wald, und bald kam ich an einen
hohen Berg. Als ich oben war, sah ich die Goldne
Aue vor mir, und überschaute Thüringen weit und
breit, also daß kein Berg in der Nähe umher mir
die Aussicht wehrte. Gegenüber lag der Harz mit
seinen dunklen Bergen, und ich sah unzählige
Schlösser, Klöster und Ortschaften. Wie mir nun da
recht wohl innerlich ward, fiel mir der alte Mann
ein, bei dem ich schlief, und es gedeuchte mir,
als sei das vor geraumer Zeit geschehn, daß ich
bei ihm gewesen sei. Bald gewahrte ich eine
Stiege, die in den Berg hinein ging, und ich
machte mich hinunter. Nach langer Zeit kam ich in
eine große Höhle, da saß ein Greis in einem langen
Kleide vor einem eisernen Tische, und schaute
unverwandt nach einem wunderschönen Mädchen, die
in Marmor gehauen vor ihm stand. Sein Bart war
durch den eisernen Tisch gewachsen und bedeckte
seine Füße. Er sah ernst und freundlich aus, und
gemahnte mich wie ein alter Kopf, den ich den
Abend bei dem Manne gesehn hatte. Ein glänzendes
Licht war in der Höhle verbreitet. Wie ich so
stand und den Greis ansah, klopfte mir plötzlich
mein Wirt auf die Schulter, nahm mich bei der Hand
und führte mich durch lange Gänge mit sich fort.
Nach einer Weile sah ich von weitem eine
Dämmerung, als wollte das Tageslicht einbrechen.
Ich eilte darauf zu, und befand mich bald auf
einem grünen Plane; aber es schien mir alles ganz
anders, als in Thüringen. Ungeheure Bäume mit
großen glänzenden Blättern verbreiteten weit umher
Schatten. Die Luft war sehr heiß und doch nicht
drückend. Überall Quellen und Blumen und unter
allen Blumen gefiel mir Eine ganz besonders, und
es kam mir vor, als neigten sich die andern gegen
sie.«
(RUB 8939, S. 15–17)
[9. Absatz]
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[11.–13. Absatz]
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