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Die wildesten, gefräßigsten Neigungen mußten der
Ehrfurcht und dem Gehorsam gegen ihre Worte
weichen. Friede ging von ihnen aus. Sie
predigten nichts als Liebe zu der heiligen,
wunderschönen Frau der Christenheit, die mit
göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus
den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war.
Sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen
Menschen, die durch Anhänglichkeit und Treue an
jene selige Mutter und ihr himmlisches,
freundliches Kind, die Versuchung der irdischen
Welt bestanden, zu göttlichen Ehren gelangt und
nun schützende, wohltätige Mächte ihrer lebenden
Brüder, willige Helfer in der Not, Vertreter
menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der
Menschheit am himmlischen Throne geworden waren.
Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen
Versammlungen in den geheimnisvollen Kirchen, die
mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen
Düften erfüllt, und von heiliger erhebender Musik
belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reste
ehemaliger gottesfürchtiger Menschen dankbar, in
köstlichen Behältnissen aufbewahrt. Und an
ihnen offenbarte sich die göttliche Güte und
Allmacht, die mächtige Wohltätigkeit dieser
glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und
Zeichen. So bewahren liebende Seelen, Locken oder
Schriftzüge ihrer verstorbenen Geliebten, und
nähren die süße Glut damit, bis an den
wiedervereinigenden Tod. Man sammelte mit inniger
Sorgfalt überall was diesen geliebten Seelen
angehört hatte, und jeder pries sich glücklich der
eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur
berühren konnte. Hin und wieder schien sich die
himmlische Gnade vorzüglich auf ein seltsames
Bild, oder einen Grabhügel niedergelassen zu
haben. Dorthin strömten aus allen Gegenden
Menschen mit schönen Gaben und brachten himmlische
Gegengeschenke: Frieden der Seele und Gesundheit
des Leibes, zurück. Emsig suchte, diese mächtige
friedenstiftende Gesellschaft, alle Menschen
dieses schönen Glaubens teilhaftig zu machen und
sandte ihre Genossen, in alle Weltteile, um
überall das Evangelium des Lebens zu verkündigen,
und das Himmelreich zum einzigen Reiche auf dieser
Welt zu machen.
Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der
Kirche, frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen
auf Kosten des heiligen Sinns, und unzeitigen
gefährlichen Entdeckungen, im Gebiete des Wissens.
So wehrte er den kühnen Denkern öffentlich zu
behaupten, daß die Erde ein unbedeutender
Wandelstern sei, denn er wußte wohl, daß die
Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und
ihr irdisches Vaterland, auch die Achtung vor der
himmlischen Heimat und ihrem Geschlecht verlieren,
und das eingeschränkte Wissen dem unendlichen
Glauben vorziehn und sich gewöhnen würden alles
Große und Wunderwürdige zu verachten, und als tote
Gesetzwirkung zu betrachten. An seinem Hofe
versammelten sich alle klugen und ehrwürdigen
Menschen aus Europa. Alle Schätze flossen dahin,
das zerstörte Jerusalem hatte sich gerächt, und
Rom selbst war Jerusalem, die heilige Residenz der
göttlichen Regierung auf Erden geworden. Fürsten
legten ihre Streitigkeiten dem Vater der
Christenheit vor, willig ihm ihre Kronen und ihre
Herrlichkeit zu Füßen, ja sie achteten es sich zum
Ruhm, als Mitglieder dieser hohen Zunft, den Abend
ihres Lebens in göttlichen Betrachtungen zwischen
einsamen Klostermauern zu beschließen. Wie
wohltätig, wie angemessen, der innern Natur der
Menschen, diese Regierung, diese Einrichtung war,
zeigte das gewaltige Emporstreben, aller andern
menschlichen Kräfte, die harmonische Entwicklung
aller Anlagen; die ungeheure Höhe, die einzelne
Menschen in allen Fächern der Wissenschaften des
Lebens und der Künste erreichten und der überall
blühende Handelsverkehr mit geistigen und
irdischen Waren, in dem Umkreis von Europa und bis
in das fernste Indien hinaus.
(RUB 8030, S. 68–70)
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