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Wilhelm Dilthey: Novalis. In: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 141965. S. 187-241, hier S. 221-241.

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Indem dies bei Novalis erwogen wird, werden nicht nur bereits erwähnte kontrastierende Äußerungen verständlich, sondern auch der große Gegensatz zwischen seinen dargelegten wissenschaftlichen Gedanken über Religion und Christentum und seinen »geistlichen Gedichten«. In jedem zugleich natürlichen und tiefen Gemüt regen sich zuzeiten Bedürfnis, Sehnsucht, Hingabe, welche dann in anderen Tagen wieder wie ganz ferne stehen. Maria, Christus, die Auferstehung waren für Novalis nicht Glaubensartikel: alles was über die Natur moderner christlicher Überzeugungen gesagt ist, gilt auch für ihn. Eben darum würde man freveln, sie als poetische Gestalten für ihn zu betrachten. Aber in tiefbewegten Stunden, da er in den nächtlichen Himmel einer jenseitigen Welt hinausblickte, formte sich das Chaos unendlicher Welten für ihn zu diesen Sternbildern, zu denen der einsam Dahinschreitende als zu leitenden Schützern sehnsüchtig emporblickte.

Diese Lieder werden leben ewig wie das Christentum. Was sie von denen der großen geistlichen Liederdichter des 16. und 17. Jahrhunderts unterscheidet, ist eine Simplifikation und Verinnerlichung des Stoffes, welche auf dem veränderten Verhältnis zu demselben beruht. Jene alten geistlichen Lieder, wie denn die ersten in dem Drang reformatorischen Glaubenseifers, als Bekenntnisse, hervortraten, standen der Predigt ganz nahe: Ermahnung, Geschichte, Bekenntnis begegneten sich in ihnen; in der Fülle des Glaubensgehaltes berühren sie das Mannigfaltigste. Die »geistlichen Gedichte« von Novalis sind Lieder im wahren Sinne des Wortes: empfangen aus einer das Gemüt tief bewegenden individualisierten Stimmung: ihr Inhalt ist eine ganz einfache, von der Phantasie in unbestimmter Weise getragene Anschauung, so verschwimmend, als ob diese Stimmung sie emporgetragen hätte und sie dann wieder mit ihr versinken und sich auflösen müßte, einer Vision zu vergleichen. Diese einfache, von der Stimmung emporgetragene Anschauung ist bald der süßeste Friede in der Anschauung Christi, des Freundes der Seelen: »endlich kommt zur Erde nieder aller Himmel sel'ges Kind.« Bald das wehmütig heimliche Gefühl, wie er auf einsamen Pfaden, fern von der Menge, ihm folgt: »von Liebe nur durchdrungen, hast du so viel getan, und doch bist du verklungen, und keiner denkt daran.« Und dann wieder die rührendste Empfindung des Mitleids mit ihm, wie sie in alten Bildern so wundersam ausgedrückt ist, in denen man Maria über ihn gebeugt sieht, ihre Tränen rinnen, unwillkürlich steigen sie auch uns in die Augen, da wir in dies gramzerstörte Gesicht

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blicken. »Ewig seh' ich ihn nur leiden, ewig bittend ihn verscheiden. O daß dieses Herz nicht bricht.« Aber über alles geht ein Zauber der einfachsten reinsten Empfindung, der über die Lieder an Maria gebreitet ist: wie ihm, seit er sie sah, der Welt Getümmel gleich einem Traum verwehte und nun ewig ein unnennbar süßer Himmel im Gemüte steht; wie er sie anfleht, nur einmal ihm ein frohes Zeichen zu geben, oft in Träumen sei sie ihm erschienen, in Kinderzeiten:

Unzähligmal standst du bei mir.
Mit Kindeslust sah ich nach dir,
Dein Kindlein gab mir seine Hände,
Daß es dereinst mich wiederfände!
Du lächeltest voll Zärtlichkeit
Und küßtest mich: o himmelsüße Zeit!

Fern steht nun diese sel'ge Welt –

Indem wir von diesen Liedern reden, wenden wir uns von dem wissenschaftlichen Ausdruck seiner Weltansicht zu dem dichterischen. Sie begannen seine dichterische Epoche, damals als er Tieck kennenlernte. Und zwar entstanden sie, wie der Aufsatz über die Christenheit, unter dem Eindruck der Reden über die Religion. Im Herbst 1799 las er sie den Freunden vor und Friedrich Schlegel fand, daß sie das Göttlichste seien, was er je gemacht, mit nichts habe die Poesie darin Ähnlichkeit als mit den innigsten und tiefsten unter Goethes früheren kleinen Gedichten. »Die Ironie dazu ist« – schrieb er an den Freund, dessen Reden diese Bewegung angefacht hatten – »daß Tieck, der kein solch Lied herausbringt, wenn er auch Millionen innerliche Purzelbäume schlägt, nun auch solche Lieder machen soll; dann nehmen sie noch Predigten dazu und lassen's drucken.« Auch Tieck erwähnt des wunderlichen Unternehmens, indem er aber über seinen eigenen Anteil stillschweigend hinweggeht: die Predigten hätten die wichtigsten Momente und Ansichten des Christentums enthalten sollen. Ich beziehe auf diesen Plan einige Bemerkungen in dem Nachlaß. Selbst die Lavaterschen Lieder enthielten noch zuviel Moral und Aszetik; »die Lieder müssen weit lebendiger, inniger, allgemeiner und mystischer sein«. Auch die Predigten müßten schlechthin nicht dogmatisch, sondern unmittelbar, zur Erregung des heiligen Intuitionssinns, zur Belebung der Herzenstätigkeit sein. Predigten und Lieder können Geschichten enthalten; diese wirken vorzüglich religiös. In diesem Sinne nennt er die Predigten auch Legenden: diese seien der eigentliche Stoff derselben. Solche echte Legenden oder Predigten seien Nessir und Zuleima, die Bekenntnisse einer schönen Seele und das Heimweh. Man sieht wie der Plan gedacht

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war, für welchen allerdings Tieck ein wunderlicher Genosse gewesen wäre. Man sieht auch wie, die Verschiedenheit der Natur miterwogen, dieser Plan dem der Visionen verwandt war, welchen Schleiermacher nach den Reden faßte. Es war kein Zufall, sondern lag in der Natur der Sache, daß alle Pläne dieser Art dem innersten religiösen Leben einen ganz freien, man möchte sagen lit[]erarischen Ausdruck zu geben, wieder niedersanken. Die geistlichen Lieder von Novalis, die Predigten von Schleiermacher ruhten auf dem inneren Zusammenhang mit der christlichen Gemeinde.

Die Form nun, in welcher Novalis seiner Weltansicht den adäquaten dichterischen Ausdruck zu geben gedachte, war die des Romans. Seit dem Erscheinen des Wilhelm Meister war dieser Gedanke, mit dem Studium des wunderbaren Buches, in ihm aufgewachsen; nach einigen Bruchstücken eines früheren Planes, der Lehrlinge von Sais, ergriff er den Stoff des Ofterdingen, seines einzigen größeren, obwohl unvollendeten Werkes.

Von Wilhelm Meister aus kann daher allein seine dichterische Stellung begriffen werden. Hier tritt uns aber entgegen, daß die Einwirkung dieses großen Werkes auf die dichterische Produktion jener Jahre in keiner Darstellung in ihrer vollen Bedeutung erscheint.

Werden wir überhaupt jemals die Mittel finden, die Einwirkung wissenschaftlich darzustellen, welche die Phantasie einer Epoche durch ein Kunstwerk empfängt? Die Literaturgeschichte hat bisher dies Problem nicht einmal klar gesehen; seine Lösung liegt in der Zukunft der Psychologie, welche freilich heute noch weit von der Einsicht in die Gesetze der Phantasie entfernt ist. Wir sehen nur gewissermaßen von außen, historisch, wie gewisse Gestalten und Entwickelungsformen in verschiedenen Modifikationen die Phantasie einer Epoche ganz erfüllen, wie anderseits eine bestimmte Form, in welcher die Phantasie die Gegenstände konzipiert, sich fortpflanzt. Es wäre schon ein ungemeiner Fortschritt, wenn wenigstens dieser historische Gesichtspunkt ins Auge gefaßt und durchgeführt würde.

Wir haben es hier nur mit einer Seite der Einwirkungen des Wilhelm Meister zu tun, mit seinem Einfluß auf die Dichtung der Romantiker.

Und hier erscheinen nun in bezug auf die Gestalten und Entwickelungsformen der Sternbald von Tieck und der Florentin von Dorothea Veit recht geeignet, dies Verhältnis zu veranschaulichen. Wilhelm Meister enthält gewissermaßen den Grundriß des Sternbald: die Bildungsgeschichte eines vermöge der Kunst aufstrebenden Bürgersohns, die ihn durch verschiedene Abenteuer hindurch in die vornehme Gesellschaft führt: das Schema dieser Verhält-

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nisse, die flüchtige Erscheinung eines Mädchens, welche sich in seine Jugendträume verwebt, dann durch mannigfache Schicksale hindurch das Wiederfinden und die Vereinigung der beiden; ja um die Ähnlichkeit zu vollenden, diese Vereinigung durch die Schwester, eine Gräfin, vermittelt, in deren Schönheit schon in Vorausahnung die Geliebte verehrt wird. Das schöne, für eine solche Bildungsgeschichte geradezu klassische Motiv, durch das flüchtige frühe Erscheinen der Geliebten der Entwickelung und ihrer Darstellung im voraus Einheit und Zusammenhang, durch ihr Verschwinden dann wieder Freiheit für die mannigfaltigsten Verhältnisse, endlich durch das Wiederfinden einen gewissermaßen providenziellen Abschluß zu geben, hat sich seit Wilhelm Meister so tief in die Phantasie der Romandichter geprägt, als ob die Natur selber darauf führe, weil es so einfach ist. Auch die Gruppierung des Titan, dieses einzigen vollendeten Kunstromans von Jean Paul in großem Stil, der in so bewußter Nebenbuhlerschaft des Wilhelm Meister gearbeitet ist, folgt demselben Schema, mit einiger Modifikation der Erfindung. Im Florentin ist man wie zwischen den Schatten der Goetheschen Gestalten. Die Klostergeschichte Florentins ist aus der Geschichte des Harfners und des Marchese entstanden; Clementine ist die zweite schöne Seele, ihr Verhältnis zu dem Hause, wie sie aus der Entfernung alles leitet, die Verwirklichung des höchsten Kunstsinns in ihrer Umgebung, das alles ist aus der Anschauungswelt der Familie, welcher der Oheim, Natalie und die schöne Seele angehören, wie in eins gezogen. So klingt denn auch in dem Heinrich von Ofterdingen manches nach. Insbesondere ist die Gestalt der Morgenländerin eine wenig verhüllte Modifikation Mignons.

Unvergleichlich wichtiger ist aber, wie das Verfahren der Phantasie, die Form, in welcher die Erscheinungen konzipiert und dargestellt werden, von Wilhelm Meister aus diese romantischen Kreise bestimmt. Und so hervorragend erschien gleich damals diese künstlerische Eigentümlichkeit des Romans, daß die wahrhaft befähigten Kritiker, wie Schiller, Friedrich Schlegel, gleich von vornherein diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund stellten. Und diesem war denn auch, noch bevor Friedrich Schlegels Kritik erschien, ein tiefdringendes Studium von Novalis gewidmet. Wie dies Studium seine Entwickelung seit 1796 begleitete, gab ihm freilich die wachsende Divergenz der Standpunkte eine andere Richtung. Aber für seine eigene und die romantische Dichtung war jener erste Gesichtspunkt der wichtigste.

Es sei sonderbar – hiervon geht er aus –, daß in der Natur nur das Grelle, das Ungeordnete, Unsymmetrische, Unwirtschaftliche mißfalle und hingegen bei allen Kunstwerken Milde, schickliches

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Verlaufen, Harmonie und richtige gefällige Gegensätze unwillkürlich gefordert werden. Die Erzählung enthalte oft eine gewöhnliche Begebenheit, aber sie unterhalte. Sie unterhalte die Einbildungskraft im Schweben oder im Wechsel, setze sie in einen künstlichen febrilischen Zustand und entlasse sie, wenn sie vollkommen sei, mit erneutem Wohlgefühl. Und zwar sei der Vorgang eine Auffassung des Eigentümlichen, dergestalt, daß es schöpferisch in das Allgemeine erhoben werde – Auffassung des Eigentümlich-Allgemeinen, des Notwendig-Zufälligen. Sehr schön sagt er in dieser Beziehung, alles Vollendete spreche nicht sich allein, es spreche seine ganze mitverwandte Welt aus, daher schwebe um das Vollendete jeder Art der Schleier der ewigen Jungfrau.

Zeigt sich hier bereits, wie Novalis den dichterischen Charakter des Wilhelm Meister begriff und mit seiner Denkart verschmolz, so ist für seine Entwickelung entscheidend, wie ihn eine Seite dieses Romans ergriff, welche auch Schiller bemerkt hatte. Ein Roman müsse ganz Poesie sein; diese aber sei eine harmonische Stimmung unseres Gemüts, in welcher sich alles verschönere, jedes Ding seine gehörige Ansicht, alles seine passende Begleitung und Umgebung finde. Demgemäß erscheine in einem poetischen Buche alles so natürlich, zugleich aber – und das ist der entscheidende Punkt – so wunderbar: man glaube es könne nicht anders sein, als habe man nur bisher in der Welt geschlummert und gehe einem nun erst der rechte Sinn der Welt auf. Diese Empfindungsweise drückt unser Verhältnis gegenüber dem Individuell-Allgemeinen, dem Notwendig-Zufälligen genau aus. Aber in dem romantischen Geiste gewann die künstlerische Behandlung über den Realismus das Übergewicht. So erschien ihm das Gefühl des Fremdartigen, weit von der wirklichen Welt Abstehenden als das Grundgefühl der Poesie. Es sei seltsam, daß in einer guten Erzählung etwas Heimliches sei, etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheine noch uneröffnete Augen in uns zu berühren und wir stünden, indem wir aus ihrem Gebiete zurückkämen, in einer ganz anderen Welt. Die Kunst auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend: das sei die romantische Poetik, nämlich die Poetik des Romans. So richtig dies einen Grundzug des in Wilhelm Meister beginnenden modernen deutschen Romans bezeichnet: so war doch die Überspannung dieser Idealisierung, mit welcher dann eine ausschließende Vorliebe für dies Gefühl des Fremdartigen, Heterogenen verknüpft sein mußte, ein offenbarer Irrweg der Romantik. Die normale dichterische Stimmung ward damit verkehrt. Indem Novalis, welcher in den hier gegebenen Sätzen den Mittelpunkt seines dichterischen Ideals sah, diesen Weg verfolgte, mußte er bald gewahren, wie

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weit er sich von Wilhelm Meister entfernte. Sein Urteil über denselben schärfte sich. Er gedachte gegen ihn zu schreiben. Einzelne Bruchstücke sind aus seinem Nachlaß erhalten. Es scheint möglich, die Kritik gewissermaßen wiederherzustellen.

Die Philosophie und Moral des Wilhelm Meister sind romantisch. Das Gemeinste wird wie das Wichtigste mit romantischer Ironie angesehen und dargestellt, die Verweilung ist überall dieselbe (auch Schiller bemerkte in verwandtem Sinne, der Ernst sei in diesem Roman ein Spiel und das Spiel der wahre und eigentliche Ernst). Die Akzente sind nicht logisch, sondern metrisch und melodisch, wodurch eben jene romantische Ordnung entsteht, die keinen Bedacht auf Rang und Wert, Erstheit und Letztheit, Größe und Kleinheit nimmt. Eine merkwürdige Eigenheit Goethes bemerkt man dabei in seinen Verknüpfungen kleiner unbedeutender Vorfälle mit wichtigeren Begebenheiten. Er scheint keine andere Ansicht dabei zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysteriösen Spiel zu beschäftigen. Wie nun aber Schiller dem Wilhelm Meister den einzigen Vorwurf machte, daß bei dem großen und tiefen Ernst, der in dem einzelnen herrsche und durch den es so mächtig wirke, die Einbildungskraft zu frei mit dem Ganzen zu spielen scheine und sogar Ursache werde, daß dem Abbé und Serlo im letzten Buche noch einiges in den Mund gelegt ward, was dem Leser das Ganze in strengerem realistischen Zusammenhang erscheinen lassen soll: so war dagegen Novalis und seinen Freunden dieses romantische Element, welches in dem Unaufgeklärten, dem Zufall, der Bedeutung der die Einbildungskraft und das Gemüt repräsentierenden Gestalten waltet, noch zu sehr unterdrückt, ja an diesem Punkte entwickelte sich ein leidenschaftlicher Gegensatz. Nach Novalis hat insbesondere Bettina von Arnim diesen Gegensatz mit den beredtesten Worten ausgedrückt.

Wilhelm Meisters Lehrjahre sind prosaisch und modern; das Romantische geht darin zugrunde, auch die Naturpoesie, das Wunderbare. Er ist eine poetisierte bürgerliche und häusliche Geschichte, in welcher das Wunderbare ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt wird. Man erinnert sich, daß Schiller gerade die Einsicht bewunderte, wie »nur im Schoße des dummen Aberglaubens die monströsen Schicksale ausgeheckt werden, welche Mignon und den Harfenspieler verfolgen«. Novalis erfaßt denselben Punkt, aber zieht die entgegengesetzte Konsequenz. Der Geist des Buches ist künstlerischer Atheismus. Ja es ist geradezu ein Candide, gegen die Poesie gerichtet. Und nun sehr richtige Einwendungen im einzelnen: die Oberaufsicht, welche der Abbé führt, ist lästig und komisch; der Turm in Lotharios Schlosse ist

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ein großer Widerspruch mit ihm selbst. Es läßt sich fragen, wer am meisten verliert, ob der Adel, daß er zur Poesie gerechnet, oder die Poesie, daß sie vom Adel repräsentiert wird. Der Held verzögert nur das Eindringen des Evangeliums von der Ökonomie, und die ökonomische Natur ist endlich doch die wahre, die allein übrigbleibende.

Wilhelm Meister ist ganz ein Kunstprodukt, ein Werk des Verstandes. Als Künstler ist Goethe nicht zu übertreffen. Was uns an Schriften fesselt, ist allemal die Melodie des Stiles; Wilhelm Meisters Lehrjahre sind ein mächtiger Beweis dieser Magie des Vortrags, dieser eindringenden Schmeichelei einer glatten, gefälligen, einfachen und doch mannigfaltigen Sprache. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzählen, und wir werden uns angezogen und unterhalten finden.

Wir stehen hier dicht vor dem Ofterdingen. Eine wunderbare Reproduktion des Goetheschen Stiles, übertragen auf eine ganz von der Imagination geschaffene, wunderbare, fremdartige, ganz typische Welt. Novalis sagt es geradezu: Goethe wird und muß übertroffen werden, aber nicht als Künstler, oder doch nur um sehr wenig, denn seine Richtigkeit und Strenge ist vielleicht schon meisterhafter als es scheint, sondern nur wie die Alten übertroffen werden können, an Gehalt und Kraft, an Mannigfaltigkeit und Tiefsinn.

Diese Bemerkungen kehren fast wörtlich in einem Briefe an Tieck wieder. Er berichtet, er habe schon die ganze Rezension im Kopfe. In einer seiner paradoxen Antithesen, die Widerstrebendes für den Moment verknüpfen, setzt er der gehalten realistischen Goetheschen Ansicht der Welt seine poetische Stimmung entgegen, wie er sie in Jakob Böhme ausgedrückt findet. »Welch heitere Fröhlichkeit nicht dagegen im Böhme und diese ist es doch allein, in der wir leben wie der Fisch im Wasser. Ich wollte noch viel Dir sagen, denn es ist mir alles so klar und ich sehe so deutlich die große Kunst, mit der die Poesie durch sich selbst im Wilhelm Meister vernichtet wird und während sie im Hintergrund scheitert, die Ökonomie sicher auf festem Grund und Boden mit ihren Freunden sich gütlich tut und achselzuckend nach dem Meere sieht.« Diese poetische Fröhlichkeit herrscht in der Tat im Ofterdingen, im Sternbald, im Florentin und bildet einen entschiedenen Kontrast gegen Goethes reife, ruhig heitere Weltbetrachtung.

Deutlicher als die üblichen umfänglichen Herzensergüsse über den Geist der Romantik zeigt diese Reihenfolge der Wirkungen Wilhelm Meisters auf Novalis eine Seite der entstehenden romantischen Dichtung. Seine Worte sprechen ganz die Wirkung aus, welche diese im Meister herrschende Weise die moralische Welt

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aufzufassen und darzustellen auf seine dichterische Generation hatte. Will man diese Wirkung mit Händen greifen, so vergleiche man Tiecks frühere Erzählungen und Romane mit dem Sternbald. Nichts liegt zwischen ihnen als der Wilhelm Meister. Aber dieser hatte die ganze Form geändert, unter welcher die moralische Welt aufgefaßt wurde. Goethes Roman gibt nichts weniger als ein objektives Bild derselben. Die Gewalt des Naturells, Leidenschaften, welche sich bis zum Verbrechen steigern, Neigungen und Gewohnheiten, welche die Menschen schlecht oder lächerlich machen, die harten Linien, welche individuelle Lage und Arbeit in ihre Züge graben, all das ist in den Hintergrund dieser Welt geschoben oder aus ihr ausgeschlossen. Der spröde Stoff des Lebens ist ausgeschieden. Was hiervon noch in den ersten, früher geschriebenen Büchern lag, erhält durch die letzten wenigstens eine neue idealisierende Beleuchtung. In diesen haben wir es nur mit der rein menschlichen Bildung, der Ausbildung der Individualität in deren verschiedenen Lebensaltern und Lagen zu tun. Die philosophische Betrachtung des wahren Menschen und seiner Bildung herrscht hier und gibt dem Ganzen seinen Gesichtspunkt.

An diesem Punkte ist leicht zu sagen, was unter der sogenannten ästhetischen Weltansicht Goethes und der Romantiker zu verstehen sei. Kann die moralische Welt ästhetisch betrachtet werden? Man möge die Frage umkehren: kann eine ästhetische Welt einen moralischen Gehalt in sich schließen? Sie kann es. Nichts ist falscher als die Ansicht, Wilhelm Meister sei eben darum nicht unmoralisch, weil sein Gedicht mit Moral nichts zu schaffen habe. Die Komposition enthält ein moralisches Urteil. Aber in welchem Sinne? Da, wo die unbedingten sittlichen Gesetze unserer Existenz endigen, beginnen andere, welche in unserem besonderen Verhältnis zum Leben gegründet sind, Gesetze der menschlichen Lagen. Von höchster Bedeutung sind hier die Gesetze der Lebensalter und der Geschlechter, weil diese die von der Natur gegebenen Lagen bezeichnen, gegen welche sich aufzulehnen frevelhaft oder lächerlich ist. Keine Ethik, in ihren ehernen Formen, vermag diese Gesetzgebung des fließenden Lebens adäquat auszudrücken. Die Dichtung gibt ihr den Ausdruck. Die Epoche der ästhetischen Ansicht der moralischen Welt machte gegenüber verhärteten Doktrinen der Ethik dieses Recht freier konkreter Anschauung in der Tat geltend und begann damit eine Revolution unserer moralischen Denkweise, welche Schleiermacher, Herbart, Hegel philosophisch abzuschließen gedachten, welche aber noch in vollem Flusse ist. Hier liegt auch der Keim der Lucinde von Friedrich Schlegel. Unmittelbar an die angedeutete Richtung des Wilhelm Meister schließt sich diese leidenschaftliche Verirrung. Mit wahrhafter kritischer

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Genialität zeigt Friedrich Schlegels Abhandlung über Wilhelm Meister, wie die kunstreiche Komposition des Buches in einer positiven moralischen Ansicht abschließt, die sich in dem Oheim, in Lothario, in Natalie man möchte sagen kristallisiert. Wenn er Wert darauf legte, daß diese Abhandlung Ironie enthalte: so geschah das, weil er sich wohl bewußt war, die Straffheit einer Komposition, welche von dieser moralischen Ansicht aus gestaltet worden wäre, Goethe an vielen Punkten nur untergelegt zu haben. Das hieß: für ihn war die Aufgabe einer ästhetischen Darstellung der moralischen Welt in Wilhelm Meister noch nicht voll verwirklicht. Hieran knüpfte sich ein eigenes poetisches Experimentieren. So schloß sich an Wilhelm Meister der doktrinäre oder der Tendenzroman an. Er schloß sich an die moralphilosophische Seite des Werkes, welche in der Tat in den beiden letzten Büchern vorherrscht. In diesen fand daher auch Friedrich Schlegel folgerecht den Höhepunkt des Romans, obwohl ja ganz offenbar, eben wegen dieser philosophischen Intention, die reine dichterische Kraft in ihnen abnimmt.

Tieck und Novalis behandeln diesen Grundzug des Wilhelm Meister unbefangener. Sie nehmen diese dichterische Verallgemeinerung der Individualitäten, diese Darstellung der verschiedenen Standpunkte, unter denen uns die Welt erscheint, ebenfalls auf. Ja Novalis wenigstens führt das Typische in der Komposition viel weiter und dementsprechend nehmen die rein betrachtenden Gespräche einen noch breiteren Raum ein. Aber beide erhalten sich die freie Ausbreitung nach allen Seiten, welche der dichterischen Gemütsstimmung wesentlich ist.

Dagegen bilden beide jenen Zug des Fremdartigen in der Erscheinung der Welt unter dem Einfluß von Motiven, welche in dieser Generation hinzutraten, wie in der dargestellten Theorie, so auch in ihren Werken aus.

Die auf Goethe folgende Generation wuchs unter dem Einfluß einer abstrakten, ganz idealistischen Philosophie auf; sie nährte sich an Dichtungen; sie hat nie zum Leben ein ganz unmittelbares dichterisches Verhältnis gewonnen. Demgemäß erhielt die Kunstform, die Doktrin, die Idealisierung notwendig das Übergewicht über das Reale. Sie hatten wenig neue Anschauung der realen Welt mitzuteilen; sie hatten aber eine Steigerung der Kunstform ihnen eigen. Hierin unterscheiden sie sich ganz wesentlich von der folgenden dichterischen Generation, in welcher Kleist und Arnim hervortraten.

Dieser gesteigerten Kunstform, diesem durchgebildeten Idealismus entsprachen das erwähnte merkwürdige Gefühl und die Darstellungsmittel, um die Fremdartigkeit der Welt herauszuheben.

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Es war als ob sie durch ein gefärbtes Glas die Welt sähen. So geben sie denn der Welt die Farbe ihrer Subjektivität, werden nicht müde, sie wunderbar zu finden, fremdartig, seltsam. Sie schweben zwischen der Wirklichkeit der Dinge und ihrer philosophischen, ihrer Kunststimmung.

Das waren die Bedingungen, das war die Grundrichtung von Novalis, in welcher Heinrich von Ofterdingen sich gestaltete. In bewußtester Nebenbuhlerschaft mit Goethe, wie denn nach seiner Absicht schon Druck und ganze äußere Erscheinung des Buches den Ofterdingen wie ein Gegenstück zum Meister erscheinen lassen sollten.

Neben Goethes Meister wirkte, wie er selber Tieck schrieb, dessen Sternbald am meisten auf seinen Ofterdingen. Dieser Roman ist sehr überschätzt worden: neben den Märchen oder Genoveva darf er nicht stehen, ja Lovell ist von einer weit größeren Originalität. Aber gerade weil Tieck hier so sehr in den Gestalten Wilhelm Meisters weiterdichtet, unter welche Szenen und Figuren des Ardinghello sich mischen, ist doppelt merkwürdig, wie er eine solche Wirkung üben konnte. Er steht zu den älteren Erzählungen Tiecks im schroffen Gegensatz. In William Lovell läßt sich die Nachwirkung des Stiles, der Naturanschauung, der Stimmungen des Werther überall bemerken. Das Schema der Handlung für diese innere Welt muß dann Schillers Geisterseher herleihen. So ist auch hier seine Phantasie in den Banden fremder Dichtung. Aber die Misanthropie, ja die Menschenverachtung und der Weltschmerz, welche durch dies Buch wehen, sind die eigentümliche Stimmung seiner Jugendpoesie; Schauer, Bangen, Grauen die Eindrücke, über welche seine Phantasie eine unbeschränkte Macht hat. Man muß dann die von Schauern durchwehten Märchen vergleichen, seine Abhandlung über das Wunderbare in Shakespeares Poesie, welche er seiner Bearbeitung des Sturmes beigab und welche ihn ganz mit dem Studium des Dämonischen und seiner Wirkungen beschäftigt zeigt. Das war die Heimat seiner Phantasie. Und nun kam in Sternbald die Nachbildung von Goethes heiterer Welt und künstlerischer Lebensanschauung. Sie entsprach ganz anders dem Geiste der Zeit. Auch hier die Phantasie herrschend, aber hier die heiterste, in welcher Sehnsucht, Liebe, Fülle des Lebensgefühls, die für die romantische Dichtung so charakteristische Wanderlust durcheinander spielen. So lag hier für den Ofterdingen nicht ein Vorbild, aber eine neue starke Anregung.

Heinrich von Ofterdingen zeigt nun einen ungemeinen Fortschritt gegenüber den Lehrlingen von Sais. Diese entstanden aus den Anregungen des Freiberger Aufenthaltes, wahrscheinlich dort selbst noch. Der Grundgedanke der Lehrlinge ist eine tiefsinnige Zu-

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sammenfassung der Naturansicht, wie sie von Fichte aus entwickelt werden konnte. Dieser Grundgedanke läßt sich aus den Entwürfen der Fortsetzung nicht erkennen, dagegen ist derselbe bereits, wie im Ofterdingen, nach seinen Grundlinien in einem eingeflochtenen Märchen antizipiert. Man kann nichts Anmutigeres lesen als das Märchen von Rosenblütchen und Hyazinth, wie sie sich liebten, ohne es selber recht zu wissen, wie die Veilchen und Erdbeeren und die Tierchen des Gartens es sahen und ausplauderten, wie sie glücklich waren; wie aber der wunderliche Hyazinth seltsamen Dingen nachhing, wie einst aus fremden Landen ein Mann kam, seinen langen weißen Bart auseinandertat und bis tief in die Nacht erzählte und wie nun alle Ruhe vorüber war, und Hyazinth sich aufmachte, im Tempel der Isis das Antlitz der Natur zu schauen; nach langen Wanderungen kam er an; er stand vor der himmlischen Jungfrau; da hob er den Schleier und – Rosenblütchen sank in seine Arme. Im lieblichsten parodischen Scherz ist hier das gesagt, auf welches alle einzelnen Andeutungen der Erzählung selber zielen. Der Tempel zu Sais ist auch ihr Hintergrund, das verschleierte Bild von Sais; die Lehrlinge der Tempelschule sind die Helden. Das Geheimnis der Natur soll begriffen werden. In dem Lehrer ist Werners Gestalt idealisiert; seine wissenschaftliche Methode ist in eine naive Mystik übertragen. Es ist bekannt, daß der intellektuelle Charakter dieses großen Mineralogen und Geologen in einer ungewöhnlich scharfen und umfassenden äußeren Unterscheidungskraft, in einer ungemeinen Verschärfung und Vermehrung der bisher aufgestellten Merkmale, in einem damit zusammenhängenden umfassenden klassifikatorischen Geiste beruhte. So prägte er dem, was vordem ein Aggregat zerstreuter Bemerkungen gewesen war, den Charakter der Wissenschaft auf. Mir scheint unzweifelhaft, daß diese Art von Genialität Novalis bei seiner Schilderung vorschwebte: »Oft hat er uns erzählt, wie ihm als Kind der Trieb die Sinne zu üben, zu beschäftigen und zu erfüllen keine Ruhe ließ.« »Er sammelte sich Steine, Blumen, Käfer aller Art und legte sie auf mannigfaltige Weise sich in Reihen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in Schichten der Erde Bau vollführt war.« In abstrakten Zügen wird das Bild jener Schule entworfen, welche damals, eine Zeit hindurch, über ganz Europa ihre Terminologie und ihre Jünger ausbreitete.

Und nun erhebt sich unter diesen Lehrlingen, welche das verschleierte Geheimnis der Natur vor Augen haben, der Kampf der Naturansichten. Was ist die Natur? Ein wundersames Gemüt, das sich nur dem Dichter aufschließt – ein der Ordnung entgegenschreitendes Ganze, ein entsetzliches Tier – aufblühende Ver-

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nunft – so kreuzen sich die Reden über den geheimnisvollen, verschleierten Grund der Dinge. Und unter den Streitenden in sich selber gekehrt der Held des Romans, der Lehrling, welcher bestimmt ist, nach dem Tode des Lehrers das große Wunder zu entschleiern. Es ist Novalis selber, wie er damals dachte, der Novalis, den wir auch aus den Fragmenten ganz so kennen lernten, Novalis wie er in Freiberg sann. »So wie dem Lehrer ist mir nie gewesen. Mich führt alles in mich selbst zurück. Mich freuen die wunderlichen Haufen und Figuren in den Sälen, allein mir ist als wären sie nur Bilder, Hüllen, Zierden, versammelt um ein göttlich Wunderbild, und dieses liegt mir immer in Gedanken. Sie such' ich nicht, in ihnen such' ich oft. Es ist als sollten sie den Weg mir zeigen, wo in tiefem Schlaf die Jungfrau steht, nach der mein Geist sich sehnt. Und wenn kein Sterblicher nach jener Inschrift dort den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden suchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais.« Das ist der Punkt der Lösung. Und diese Lösung, auf welche der Roman zustrebte, wie sie das Märchen parodisch enthält, ist ernsthaft in dem Distichon Hardenbergs ausgesprochen:

Einem gelang es, – er hob den Schleier der Göttin von Sais –
Aber was sah er? – er sah – Wunder des Wunders, sich selbst.

Und von dieser Einsicht aus klärt sich nun das in dem Entwurf der Fortsetzung angedeutete Detail auf. In Träumen sollte ihm die Isis erscheinen; er sollte nun den Sinn der Welt sehen, wie ihn die Religionen immer neu ausprägen, sollte durchschauen, wie in den griechischen Göttern, wie in den Kosmogonien der Alten, wie in dem indischen Mythos überall der Mensch als das gelöste Rätsel der Natur gefeiert wird. Es ist zu vermuten, daß Novalis in seiner späteren Epoche diesen Grundgedanken wie die lehrhafte Unform, in welcher seine Ausführung begonnen war, umgestaltet hätte. Als er Jakob Böhme las und am Ofterdingen arbeitete, schrieb er Tieck, ihm sei, da er nun den Böhme erst kennengelernt, um so lieber, daß die Lehrlinge bisher geruht hätten, die nun auf eine ganz andere Art erscheinen sollten. »Es soll ein echt sinnbildlicher Naturroman sein. Erst muß Heinrich fertig sein. Eins nach dem anderen: sonst wird nichts fertig. Darum sind auch die Predigten liegen geblieben und ich denke sie sollen nichts verlieren.«

Im Frühjahr 1799 war ihm in der Bibliothek des Generals von Funk die Sage von Ofterdingen in die Hand gefallen, dieser selber hatte eine Geschichte des Kaisers Friedrich II. geschrieben und die glänzendste Zeit des mittelalterlichen Geistes, die sich damit vor ihm auftat, mußte wohl einen Dichter sofort ergreifen, der im Gegensatz gegen die von Goethe aufgefaßte moderne, realistische

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Welt nach einem wahrhaft poetischen Anschauungskreis suchte. Er fand ihn in dieser gewaltigen Zeit. Das traf zusammen mit dem Wiederaufwachen der Poesie in seiner Seele, welches er Tiecks Anwesenheit verdankte. In der glücklichsten Stimmung ging er an die Arbeit. In tiefer Einsamkeit, auf der kursächsischen Saline in Artern, einem Ort in der güldnen Au in Thüringen am Fuße des Kyffhäuser-Berges, wohin ihn seine Geschäfte führten, begann er gegen den Winter 1799 den Ofterdingen. Am 5. April 1800 war der erste Band vollendet. Er war im vollen Gefühl seiner Kraft. Der Ofterdingen erschien ihm als ein erster Versuch in jeder Hinsicht, die erste Frucht der wiedererwachten Poesie. Der Kopf wimmelte ihm von Ideen zu Romanen und Lustspielen. Mir scheint wahrscheinlich, mit den Jahren der Reife würde der Überschwang einer mystischen Phantasie sich gemäßigt haben. Wer kann sagen, welche Früchte ein Geist getragen hätte, der eben erst in die Jahre der Blüte trat? Aber an dieser Blüte nagte bereits der Wurm der unheilbarsten, hoffnungslosesten Krankheit.

Es ist nicht zu bestimmen, wann er den zweiten Teil begann. Sein Anfang ist vielleicht in der Melodie seines Stiles das Vollendetste, was Novalis geschrieben hat, manches Spätere hat etwas von der farblosen Stille des Krankenzimmers, dann auch von der formlosen Gedehntheit eines ersten Entwurfs. Um billig zu sein, müssen wir dies erwägen.

Trotz dieses fragmentarischen Zustandes erscheint mir dieser Roman als das Bedeutendste, was diese erste Generation der Romantik hervorgebracht hat. Eine wahrhaft zauberische Melodie der Sprache umgibt mit unsäglichem Reiz den Tiefsinn einer einsamen, vornehmen, dem Größten ernsthaft zugewandten Seele. Nicht mit andächtigerer Wehmut – so schließt Tieck seine Mitteilung – würde er ein Stückchen von einem zertrümmerten Bilde des Raffael oder Correggio betrachten. Unwillkürlich drängt eine solche Empfindung, aus dem Übriggebliebenen sich das Ganze wieder vorzustellen, wie es einst vor Hardenbergs Seele stand. Und indem man das versucht, findet man mit Erstaunen einen viel klareren Zusammenhang als die Literarhistoriker bisher aufzeigten. Wenn Tieck nach seiner Art diesen Zusammenhang im Halbdunkel verschwimmen läßt: so hätte doch die Literaturgeschichte besser diesen ins Auge gefaßt, als immer wieder in Schilderungen einer Poesie zu schwelgen, in welcher Wasser und Himmel in einem blauen Meere unterschiedlos verschwimmen sollen.

Es ist die Geschichte eines Dichters. Der erste Band umfaßt in großen, aber ganz einfachen Zügen alles Glück eines ruhig umschränkten Daseins, das die Wellen des geschichtlichen Lebens

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noch nicht umspülen. Die rührende Enge eines mittelalterlichen Hauses zu Eisenach; darin aufwachsend ein Sohn, in welchem sich verwirklichen soll, was einst in der feurigen Seele des Vaters arbeitete; das ganze geheimnisvolle Glück seines Lebens steht dem Jüngling im Traum vor der Seele, in jener vielbesungenen und vielangefochtenen wundersamen blauen Blume; wie Wilhelm Meister trägt er eine Ahnung der ganzen Welt in seinem Herzen. Diese Ahnung scheint sich zu verwirklichen; indem er zum erstenmal aus der Enge des Hauses heraustritt, auf der Reise zum Großvater nach Augsburg, scheinen ihm die wichtigsten Eindrücke des Lebens entgegenzukommen: in dem morgenländischen Mädchen der geschichtliche Kampf seiner Zeit, in dem Bergmann die Geheimnisse der Natur, in jener Höhle aber, wo ihm der Graf von Hohenzollern begegnet, das Rätsel seines eigenen Daseins. Das Buch seines Lebens liegt da vor ihm in geheimnisvollen Bildern, das Gesetz des menschlichen Schicksals bewegt seine Seele, eine neue Epoche in seinem inneren Leben beginnt. Raschen Schrittes scheint er der Vollendung desselben entgegenzuschreiten, wie er nun in dem Dichter Klingsohr die Gestalt seines vollendeten Daseins, in Mathilden alles Glück der Gegenwart und Zukunft umfaßt. Er erscheint als eine jener glückseligen Naturen, denen, wie sie ruhig und sicher voranschreiten, alles Glück des Lebens in jugendlicher Fülle entgegenkommt. Das schien einst Hardenbergs eigenes Los.

Ich glaube, daß der zweite Band in der Tat so beginnen sollte, wie nun der Anfang vorliegt. Wir finden Heinrich wieder als Pilgrim, auf dem Wege nach Rom, wie er noch einmal auf Augsburg mit unaussprechlicher Traurigkeit zurückblickt, ein Bild, in welchem das ganze tiefe Leid des Dichters einen überwältigenden Ausdruck gefunden hat. Der Zusammenhang scheint zweifellos, indem man den ahnenden Traum Heinrichs mit den schmerzlichen Empfindungen vergleicht, mit welchen er nun hinabblickt: »Dort lag Augsburg mit seinen Türmen, fern am Gesichtskreis blinkte der Spiegel des furchtbaren geheimnisvollen Stromes« – in seinen Wellen hat er Mathilden verloren, da er sie kaum besaß. Das Schicksal Heinrichs ist das des Dichters und es macht die größte Wirkung, daß alles, was mit Mathildens Tode zusammenhängt, dunkel gehalten ist, als ob der Dichter in die Nacht dieser Stimmungen weder sich noch den Leser hinabreißen möchte im harmonischen Gange seiner romantischen Geschichte.

Leise und allmählich, mit tiefer Kunst, hat uns der Dichter in seine Welt geführt, eine Welt, in welcher gewissermaßen der metaphysische Zusammenhang des menschlichen Lebens zutage liegt. Denn dieser ist, richtig verstanden, der Sinn seiner ästhetischen

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Form. Er unterbricht nicht gelegentlich mit Träumen, Wundern und Abenteuern seine Geschichte, sondern er läßt den metaphysischen Zusammenhang derselben immer deutlicher hervortreten. Daraus folgt aber, daß hier die Verknüpfung nur aus der unbewußten Empfindung in die Klarheit äußerer Erscheinung erhoben wird. Somit folgt, daß die Kontinuität in dem Leben des Helden nicht vernichtet, sondern vielmehr dergestalt verstärkt wird, daß nunmehr die Entwickelung des inneren Schicksals, welche in der Tiefe des Gemüts vor sich geht, aus dieser zu klarer Bewußtheit erhoben wird. Wenn also ein Dichter das Recht hat, unsere Seele, wie fest sie auch selber in ihrem eigenen Gehalt ruhen mag, eine Zeit hindurch zum Spiegel seiner eigenen Weltansicht zu machen, falls nur diese menschlich und tief ist: dann scheint mir auch diese Form, mitten unter unzähligen anderen, und da sie ohnehin zu viel poetische und philosophische Tiefe fordert, als daß ihre Ausbreitung zu fürchten wäre, in vollem Rechte zu sein.

Wer als ein Dichter dürfte den metaphysischen Zusammenhang des Lebens zu deuten unternehmen? die wahre und strenge Philosophie verschmäht, da sie ein strenges Maß der Erkenntnis in sich enthält, in diesen dunklen Regionen mit ihm zu wetteifern. Sie vermöchte ohnehin nicht, in solchem Halbdunkel wie es hier uns umgibt, diesen Zusammenhang bald hervortreten zu lassen, als könnte man ihn mit Händen greifen, dann wieder plötzlich völlig zu verbergen. Ein lösendes Wort läßt sich sagen. Dieser metaphysische Zusammenhang wird durch eine Hypothese gestützt, an welcher auch Lessings nüchterner Geist mit besonderer Vorliebe hing, die Schleiermacher in den Reden über die Religion als bildlicher Ausdruck für eine der höchsten religiösen Wahrheiten bezeichnet hat: sie besteht in dem Glauben an eine bestimmte, sich von neuem im Kreislauf der Zeit und ihres Gesetzes von Geburt und Tod entfaltende Individualität, an eine durch die Vergangenheit bestimmte Ordnung in den Beziehungen der Seelen zueinander, an immer neue Formen ihres Daseins: was mit uraltem doch unzutreffendem Ausdruck als Seelenwanderung bezeichnet wird. Früh war dieser Gedanke Novalis nahegetreten; einst hatte er von Sophien niedergeschrieben, daß sie an die Seelenwanderung glaube; in den Gesprächen mit ihr hatte ihn dieser Gedanke beschäftigt; es mag ihn mit geheimem Zauber gelockt haben, ihn zum Hintergrund dieses Denkmals seiner Schicksale zu machen.

Mit dieser Einsicht kommen wir nun dem fragmentarischen Charakter dieses Werkes zu Hilfe, und damit kann denn ein wirklicher Einblick in den Plan gewonnen werden, der allen bisherigen Kritikern des Werkes fehlte. Die Episode des ersten Bandes, in welcher

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der Graf von Hohenzollern auftritt, enthält gewissermaßen den Einschlag zu dem offenliegenden Faden der Erzählung. In früher Jugend hatte eine heiße Schwärmerei den Grafen in die Einsamkeit des Einsiedlers gezogen. Da er aber bald empfand, daß man eine Fülle von Erfahrungen dahin mitbringen müsse, daß ein junges Herz nicht allein sein könne, ja daß der Mensch erst durch vielfachen Umgang mit seinem Geschlecht eine gewisse Selbständigkeit erlange – die treffendste Kritik des Mönchtums durch diesen »katholischen« Schwärmer –: so warf er sich aus seiner jugendlichen Einsamkeit in die Gefahren und Wechsel des Krieges. Da er endlich, nach vielen Jahren, mit seiner Gattin und zwei Kindern, welche diese ihm bereits geboren hatte, zurückkehrte, einem Sohn und einer Tochter, starb der Sohn ihm hinweg; die Tochter, schon im Totengewölbe beigesetzt, ward von dem Arzte Sylvester gerettet und sie ist es, welche nun, als Cyane, dem Pilgrim erscheint, am Beginn des zweiten Bandes. Heinrich aber ist, im Kreislauf der Seelen, in seiner früheren Daseinsform, jener frühverstorbene Sohn des Grafen von Hohenzollern gewesen. Der fragmentarische Charakter des Werkes zwingt, diesen Faden so ganz nüchtern abzuwickeln, damit der Leser ihn erblicke: ein Verfahren, mit welchem man jedem Dichter sonst unrecht tut, ja geradezu die innere Konstruktion seiner Schöpfung zerstört, die man bloßzulegen behauptet.

Jetzt wird verständlich, wie der arme Pilgrim, da ihm, inmitten der Felsen, seine schmerzlichen Erinnerungen sich erheben, da die Geliebte tröstend erscheint und Cyane neben ihm steht und ihn zu Sylvester führt, nunmehr einen ganz neuen Blick in sein Schicksal tut. Und dieser dient ihm zur Vorbereitung für die Zukunft, der er entgegengeht. Mitten in dieser Situation, da eben Sylvester seine Geschichte zu erzählen begonnen hat, die so viele Rätsel ihm lösen muß, endigt, was wir von Novalis' eigener Hand besitzen.

Zu dem Entwurf der Fortsetzung, wie ihn Tieck mitteilt, besaß dieser eine dreifache Quelle: Briefe, Aufzeichnungen, Erzählungen, da er im Sommer 1800, als Novalis sich mit der Fortsetzung trug, diesen sah. An einem entscheidenden Punkt müssen wir die richtige Auffassung, auf Grund des Romans selbst, in Frage stellen; an vielen anderen zweifeln wir.

Eine ergreifende Erfindung folgt: Cyane sendet Heinrich nach einem entlegenen Kloster, das von Abgeschiedenen bewohnt wird. »Lebst Du hier ganz allein?« hatte sie Heinrich gefragt. »Ein alter Mann ist zu Hause (Sylvester), doch kenne ich noch viele, die gelebt haben.« Er vernimmt ihren fernen Gesang. Er hat so unter Toten gelebt und selbst mit ihnen gesprochen. Es ist als ob zu Leben und zu Geschichte geworden wären jene schmerzhaftesten

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Zustände des Dichters, in denen er mit der Verlorenen lebte und sprach, in der Welt der Abgeschiedenen zu Hause war, jene Tage, deren Nachklang die Hymnen an die Nacht sind. Wessen Phantasie so wie die seine an die Tore der metaphysischen Welt geklopft hat, vom Bedürfnis des eigenen Herzens dahin gezogen: der hat auch das Recht, die Toten reden zu lassen.

Und wie in Novalis selbst einst aus dem tiefsten Ausgestalten seiner Schmerzen und des Todes das Leben sich wieder erhoben hatte: so wendet sich nun sein Heinrich, aus dem Kloster der Toten kommend, mit verändertem Sinn der Welt in ihren größten Zusammenhängen zu. Wie der Pilgrim seine Reise fortsetzt, ergreift ihn in Norditalien der Geist des Krieges; ein neuer Faden knüpft sich an, indem er, in dieser seiner kriegerischen Epoche, in Pisa Heinrich, den Sohn Friedrichs II., sieht und sein Freund wird. Von Italien wird er nach Griechenland verschlagen, wo die Kunst sich ihm öffnet; von Griechenland zieht ihn die Sehnsucht nach dem Morgenlande, der Heimat der Religion und intuitiver Weisheit. Er erreicht endlich Rom, den Mittelpunkt der damaligen Welt, und kehrt nunmehr, in reifer Männlichkeit alle Erfahrungen seiner Zeit umfassend, nach Deutschland zurück, wo ihm nun am Hofe Friedrichs II. der tiefste Einblick in das gewaltige handelnde Leben des deutschen Geistes in dieser Epoche gegeben werden sollte.

Die Wanderjahre sind vorüber. Er wendet sich zurück in die Tiefe des eigenen Gemüts, welche allein die Welt erklärt, aber auch nur dem, den ihre Flut wirklich umspült hat. Die Erfindung ist hier an dem Punkte angelangt, an welchem die Ofterdingensage sich anschließen kann. Wir wissen nicht, wie Klingsohr, Heinrich, Wolfram nebeneinandergestellt worden wären. Der Mittelpunkt des ganzen Werkes, das metaphysische Wesen des menschlichen Schicksals, das Verhältnis der unsichtbaren und sichtbaren Welt, sollte hier plötzlich, als Thema des Wettstreits, in poetischer Verklärung, selber hervortreten.

Ich vermute, gegen Tiecks Darstellung, daß zwischen dem, was bis dahin geschah, und der Welt, welche sich nunmehr auftut, in Novalis' Geiste eine klare Grenze bestand. Das irdische Leben Heinrichs ist zu Ende. Das folgt aus dem ganzen Verfahren, mit welchem das Wunderbare bis dahin behandelt war, mit einer freilich nur subjektiven Evidenz. Wo aber Heinrich, dort im Gebirg, Mathildens Worte vernimmt, sagt sie es auch ausdrücklich, daß sie ihn erst nach seinem wirklichen Tode (»bis du auch stirbst«) wiedersehen werde. Diese Wiedervereinigung ist daher von dem vorhergehenden durch die Scheidewand des Todes getrennt; was nun erzählt wird, sind träumerische Anschauungen, die über das gegenwärtige Dasein Heinrichs in das verschwimmende Dunkel

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blicken. Ist dies richtig, dann ist der Verkehr mit einer Welt der Abgeschiedenen und des Wunders in diesem Roman auf jene Epoche beschränkt, in welcher Mathildens Tod ihn zum Reich der Abgeschiedenen mit aller Kraft leidenschaftlicher Sehnsucht hinabreißt.

Dieser Abschluß, der uns in das Land der Zukunft blicken läßt, knüpft an das wundervolle Märchen des ersten Bandes an. Dasselbe schließt sich unmittelbar an den Charakter des von Goethe gedichteten. Wie weit steht es von den Märchen Tiecks! In diesem von Novalis spricht sich eine durchgeführte Naturphilosophie aus; die Poesie eines träumenden Pantheismus redet aus den Märchen Tiecks. Aus den Schauern der Natur selber erheben sich Gestalten; wie einem ganz einsamen Wanderer im nächtlichen Walde Phantasie und Grauen einen Schatten, der über seinen engen Pfad fällt, in ein Tier verwandeln, wie es sich nähert, in einen Menschen, in einen nächtlichen Spuk: so erscheinen aus dem rätselvollen von Schrecken erfüllten Schoße der Natur Gestalten, die sich verwandeln, die aber in allen Wandlungen mit dem geheimnisvollen Blick uns ansehen, welcher die Seele dieses alle Schrecken und alle Lust der Welt in sich bergenden, dämonischen Plan enthält. Naturpoesie ist der tiefste Zug dieser Epoche. Aber die Natur von Novalis ist ein Weltgemüt, die von Tieck eine dämonische Phantasie. Unter ihrem Stern sind seine Menschen geboren, deren Seele ein Spiel elementarer Stimmungen ist: Andacht und Grauen, Wanderlust und innere Heimatlosigkeit, eine grenzenlose Wehmut, solche elementare Gewalten bilden den inneren Kern derselben. Fernab stehen die sittlichen, die geschichtlichen Mächte, Wille und Weltverstand: diese Menschen wollen nicht, die Natur in ihnen bewegt sich. Daher lag in der Weltansicht von Novalis ein Gegensatz gegen Tieck, der sich immer klarer hätte entfalten müssen. Die Natur ist ihm eine Ordnung und Entwickelung der Welt, deren innerstes Geheimnis das unseres eigenen Gemüts ist. Dies Geheimnis löst allein die Poesie. So durfte er die Einheit von Poesie und Wissenschaft als den Grundgedanken seiner Weltansicht bezeichnen. Und hier liegt der Grund, aus welchem ihm sein Roman wie von einem Märchen umgeben ist. Dies Märchen ist Mythologie, d. h. die Verkörperung einer die Natur erklärenden Weltansicht.

Dies erklärt den Zusammenhang des Abschlusses des Ofterdingen mit dem Märchen. Eine von Tieck mitgeteilte Aufzeichnung zeigt, daß in dieser Fortsetzung die Gestalten des Romans in die des Märchens aufgelöst werden sollten. Wie kann man denken, diese Dinge, die sich dergestalt an das Märchen anfügen, seien eine einfache Fortsetzung der Geschichte? Wie kann man anderseits dem

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Märchen einen ganz durchgedachten Sinn absprechen, da Figuren und Begebenheiten des Romans sich später mit ihm verschlingen, um den letzten Sinn des Ganzen auszusprechen? Eine andere Sache ist, eine Auslegung zu geben. Indem man das methodisch tut, verwandelt man die Anmut des Märchens in eine frostige Allegorie. Gerade darum, weil die Abstrakta und ihre Verknüpfung der Anschauung des Dichters nicht genügen, greift er zu dieser Form; wie also dürfte man hoffen, in ihnen den ganzen Sinn festzuhalten? Dagegen, wer mit der Naturphilosophie vertraut ist, deren magnetische und galvanische Theorien überall zugrunde liegen, wird den ihm vorschwebenden Sinn leicht in allem Einzelnen fassen; kaum ein Wort in demselben bleibt dunkel. Für den Sinn des Romans ist der Grundgedanke entscheidend. Die Herrschaft des anmaßenden Verstandes muß überwunden werden, die goldene Zeit zurückkehren, die Poesie bereitet die Erlösung der Welt vor: die ewig schaffende mütterliche Gewalt wird einst, im ganzen All lebendig gegenwärtig, Empfindung und Seele über alles verbreiten: Weisheit und Liebe werden herrschen:

Gegründet ist das Reich der Ewigkeit:
In Lieb' und Frieden endigt sich der Streit;
Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen;
Sophie ist ewig Priesterin der Herzen.

Eine Reihe neuer Dichtungen schwebte vor seiner Seele, als er an diesem Roman arbeitete. Er sah sich der Vereinigung mit Julie von Charpentier nahe, da ihm die Stelle eines Amthauptmanns zuteil geworden war. Es fehlte ihm nichts zu seinem Glück, als davon Besitz zu nehmen. Aber schon seit längerer Zeit waren die Zeichen jenes grausamsten Leidens aufgetreten, das so lange und so sicher mit dem Tode droht, und als er im Anfang November erfuhr, daß ein jüngerer Bruder von vierzehn Jahren durch Unvorsichtigkeit ertrunken sei, zog ihm der plötzliche Schreck einen heftigen Blutsturz zu, worauf seine Ärzte gleich erklärten, daß sein Übel unheilbar sei. Wozu die Stadien aufzählen? Er starb am 28. März 1801, ruhig einschlafend: alle, die ihm die Nächsten waren, um sich, auch Friedrich Schlegel unter ihnen.

So ging er hinweg in der Götterdämmerung der Jugend, die schwärmerische Seele voll von Plänen des Glückes und der Dichtung, als ob er, gleich seinem Helden, nur einen größeren Schauplatz für eine im lebendigsten Wachstum begriffene Kraft beträte. Wer kann sagen, was ihm noch geglückt wäre? Goethe hat gesagt, mit der Zeit hätte er ein Imperator werden können, der die poetische Literatur beherrscht hätte. Es scheint, daß er wie Tieck durch die Gewalt seiner persönlichen Erscheinung noch mehr fesselte als durch

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seine Schriften. Wir haben eine Schilderung derselben von Steffens. »Wenige Menschen hinterließen mir für mein ganzes Leben einen so bedeutenden Eindruck. Sein Äußeres erinnerte dem ersten Eindruck nach an jene frommen Christen, die sich auf eine schlichte Weise darstellen. Sein Anzug selbst schien diesen ersten Eindruck zu unterstützen, denn dieser war höchst einfach und ließ keine Vermutung seiner adligen Herkunft aufkommen. Er war lang, schlank, und eine hektische Konstitution sprach sich nur zu deutlich aus. Sein Gesicht schwebt mir vor als dunkel gefärbt und brünett. Seine feinen Lippen, zuweilen ironisch lächelnd, für gewöhnlich ernst, zeigten die größte Milde und Freundlichkeit. Aber vor allem lag in seinen tiefen Augen ätherische Glut. Er konnte, besonders in größeren Gesellschaften oder in Gegenwart von Fremden, lange stillschweigend, in Nachdenken versunken, dasitzen. Nur wo ihm verwandte Geister entgegenkamen, gab er sich ganz hin. Dann aber sprach er gern und ausführlich und erschien im höchsten Grade lehrhaft.«

Die Generation, in der er lebte, brachte drei hervorragende Dichter hervor: ihn, Tieck und Hölderlin. Diese drei stehen weit näher beieinander als etwa Novalis und Tieck bei Friedrich oder August Wilhelm Schlegel. Wenn sich Hölderlin in das Griechentum versenkte, jene beiden in das Mittelalter, so bemerkte man doch, daß es das neuplatonische Griechentum war, welches er reproduzierte, das ja dem Mittelalter verwandt genug ist. Und so zeigt nichts so sehr die zufällige Abgrenzung der sogenannten romantischen Schule, als daß Hölderlin ganz einsam stand, kein Widerhall jenen unsterblichen Gedichten antwortete, welche eine Erneuerung der griechischen Lyrik vollbrachten, die August Wilhelm Schlegel vorschwebte; wie begeistert hätte dieser ihn begrüßen müssen, der eine ihm so heterogene Erscheinung, als Tieck war, auf den Schild erhob.

Diese Generation ist dann durch wenige Jahre, aber durch eine völlige Veränderung der Bildungsbedingungen von Kleist und Arnim, den beiden größten Dichtern der nachgoetheschen Zeit in Deutschland, gesondert.

Unser Studium der Gesetze, welchen auch die scheinbar regellosen Gestaltungen der Phantasie unterworfen sind, hat, wie es scheint, in dieser Entwickelung einen der am tiefsten unterrichtenden Stoffe. Wie konnte auf die Dichtung Goethes und Schillers dieser jähe Absturz, diese ganz andersartige Entwickelung, diese schrankenlose Herrschaft der Subjektivität, der Phantasie, der Hingabe an die Natur, ja fesselloser Willkür folgen? Sollten wir hierüber mehr sagen, so müßten wir auch von einer Darstellung der Entwickelung, des Lebensinhaltes und der dichterischen Form von

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Tieck und Hölderlin ausgehen können. Dann würde sich zeigen, welche Erfolge gewisse Bildungsbedingungen dieser Generation hatten, wie sich die Verschiedenheit der Individualitäten zu diesen Bedingungen, welche sie begrenzten und teilweise bestimmten, verhielt – kurz eine wissenschaftliche Untersuchung wäre möglich. Einer solchen Untersuchung sind die allgemeinen Schlagwörter, welche seit länger als einem halben Jahrhundert auf die sogenannten Romantiker herniederregnen, nur hinderlich. Bis aber jemand sich dieser genauen wissenschaftlichen Untersuchung unterzieht, werden wir es wenigstens für einen Gewinn halten, wenn einer oder der andere, auf Grund dieser Darstellung, einmal zu Novalis griffe, in der Voraussetzung, daß seine Fragmente vielleicht doch nicht so völlig willkürlich und zusammenhanglos, sein Ofterdingen nicht so grenzenlos verschwommen seien, als es den bisherigen Kritikern Hardenbergs erschienen ist.

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Letzte Änderung am 06.11.2004.
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