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Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 141965. S. 323-326.

ANMERKUNGEN

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Novalis

Dieser Aufsatz ist 1865 in den Preußischen Jahrbüchern gedruckt. Damals waren nur die beiden Bände »Novalis' Schriften«, herausgegeben von Tieck und Friedrich Schlegel, und die Nachlese von Tieck und Bülow in einem dritten Bande von 1846 vorhanden. Seitdem hat sich unsere Kenntnis des Nachlasses von Hardenberg sehr erweitert, und heute besitzen wir in der schönen Ausgabe Minors (Novalis' Schriften, 4 Bände, Jena, Diederichs 1907) einen kritisch zuverlässigen Text der Hinterlassenschaft des Dichters. Es handelt sich nun darum, wieweit eine chronologische Bestimmung der Fragmente sowie der Aufzeichnungen über die Fortsetzung der Lehrlinge von Sais und des Heinrich von Ofterdingen erreichbar ist. Heilborn hatte in seiner Ausgabe von »Novalis' Schriften« (Berlin 1901) eine chronologische Ordnung der Fragmente versucht. Neue Wege, die wichtige Frage der Chronologie der Fragmente zu lösen, betrat dann Eduard Havenstein (»Friedrich von Hardenbergs ästhetische Anschauungen«, Berlin 1904), der bei seiner Beschäftigung mit den Handschriften alle Hilfsmittel chronologischer Bestimmung miteinander verbunden hat. Wobei er indes von seiner Untersuchung alles das ausschloß, »was ausschließlich fachmännisch über Mathematik, Physik, Chemie usw. handelt«. Ferner stellt Minor kritische Erläuterungen seiner Ausgabe in Aussicht, und es ist Hoffnung vorhanden, daß dieser hervorragende Kenner der Handschriften auch die chronologischen Fragen behandeln wird. Dies muß erwartet werden, wenn man für die Auflösung der Hauptprobleme eine feste Grundlage haben will. Denn die Ansichten von Novalis sind sehr wechselnd; was er aufzeichnete, ist vielfach abhängig von seiner Lektüre; will man die Entwickelung seiner Ideen, ihren Zusammenhang in irgendeiner bestimmten Zeit erfassen, so muß man das Verhältnis der einzelnen Schriften von Friedrich Schlegel, Schelling, Baader zu den Niederschriften Hardenbergs untersuchen, und hierfür sind komplizierte chronologische Nachforschungen erforderlich. Auch die Aufzeichnungen des Dichters über die Fortsetzung der Lehrlinge und des Ofterdingen können erst ausgenutzt werden, wenn sie zeitlich bestimmt und mit den als gleichzeitig festgestellten Fragmenten konfrontiert werden können. So ist die Zeit für eine sichere Verwertung des neuen Materials noch nicht da. Darum erscheint auch in dieser Ausgabe der Aufsatz über Novalis unverändert, abgesehen von einzelnen kleinen Besserungen und Streichungen, sowie der Zusammenziehung und Verdeutlichung einer Stelle. Ich halte an meinen Ergebnissen fest. Auch Zusätze aus dem neuen Material scheinen mir nicht erforderlich. Denn die Absicht des Aufsatzes war von vornherein nicht Vollständigkeit der Nachrichten, sondern gegenüber den damals herrschenden Ansichten über den Dichter eine Charakteristik und Würdigung desselben, und zwar besonders in bezug auf die Folgerichtigkeit und Bedeutung seiner dichterischen Konzeptionen.

Ich füge hier nur einige Bemerkungen hinzu in bezug auf Einwendungen, die gegen diesen Aufsatz über Novalis erhoben worden sind. Haym (Rez. der ›Nachlese‹ 1873, Preuß. Jahrb. Jahrg. 1873) er-

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kennt an, daß mein Aufsatz »zuerst eine wahrhaft literaturgeschichtliche Analyse des Geistes von Novalis« gegeben habe, aber es kommt doch in seiner bedeutenden und vielbenutzten Schrift über die romantische Schule (Berlin 1870) ein durchgreifender Unterschied in unserer Auffassung zum Ausdruck. Während ich die übliche Ansicht von der Verworrenheit, Verschwommenheit, dem Dunkel und den Widersprüchen in den romantischen Schriften als unhaltbar nachweisen und zeigen wollte, daß auch das, was uns in den Fragmenten und Nachlaßstücken vorliegt, einen festen Zusammenhang habe, steht Haym jener älteren Ansicht viel näher.

1. Was die Lehrlinge von Sais betrifft (Haym a. a. O. S. 348 ff.), so habe ich mich in den Worten der ersten Auflage über ihr Verhältnis zu Fichtes Standpunkt (S. 268, Z. 6. 5. 4 von unten) zu weit vorgewagt, ich gebe sie preis. Aber daß eine positive Auflösung des Streites der Naturansichten in den bei mir angegebenen Worten von Novalis liegt, halte ich fest. Novalis lehrt, daß der Mensch »mit der Natur gerade in so unbegreiflich verschiedenen Verhältnissen steht, wie mit den Menschen«. So entstehen die verschiedenen Naturansichten. Aber von dem Verfahren ab, welches der Struktur der Naturobjekte nachgeht, bis zu den Ansichten, die Vernunft, Phantasie oder Gemüt in ihr wiederfinden, wird doch nach Novalis Natur überall nur verstanden aus einem inneren Zusammenhang, im Nacherleben des in ihr wirkenden Lebens, im Wiederfinden des Selbst in ihr. Ich weise besonders auf die Stelle Minor IV, 24-26 hin. Hier tritt man aus dem Streit der Menschen über die Natur heraus. Die Naturobjekte selber reden. Und sie durchwaltet nun nach Novalis ein ihnen einwohnendes Gefühl, das die Harmonie des Naturganzen genießt, und so öffnet sich auch nur dem Gefühl des Menschen das Wesen der Natur. »Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches Leben.«

2. Eine andere Differenz besteht in bezug auf die Fragmente. Haym versucht sie in ein Ganzes zusammenzufassen. Ich habe nicht beabsichtigt, eine solche Aufgabe zu lösen. Der klare Zusammenhang meiner Ausführungen zeigt, daß ich nur gegenüber damals einflußreichen Ansichten in den Fragmenten fruchtbare und klare wissenschaftliche Gedanken aufzeigen wollte. Wie kann mir nun Haym einwenden, daß ich, um »den spezifischen wissenschaftlichen Wert der Fragmente abzuschätzen«, »einigen ganz vereinzelten Äußerungen eine Tragweite« gebe, »die ihnen in dem Gedankenplan ihres Urhebers nicht zukam« (S. 353)? Und auch dabei muß ich bleiben, daß ich mit meiner Abschätzung des wissenschaftlichen Wertes der Fragmente damals das Richtige getroffen habe. Mein Urteil über die Fragmente, die sich auf die Natur beziehen, wird bestätigt durch Olshausens einsichtige Prüfung derselben (»Friedr. v. Hardenbergs Beziehungen zur Naturwissenschaft seiner Zeit«, Leipziger Dissertation 1905 S. 75). In den metaphysischen und geisteswissenschaftlichen Fragmenten sah ich die Bedeutung des Nachlasses. Meine Absicht war, zu zeigen, welchen Wert die letzteren auch noch für die heutigen Geisteswissenschaften haben. Wie ich nun damals mit der ersten Idee einer Psychologie beschäftigt war, welche fähig wäre, die Geisteswissenschaften zu begründen, erschienen mir die

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Gedanken Hardenbergs über eine solche bedeutsam. Und auch heute noch liegt für mich der Hauptwert seiner Fragmente für die Gegenwart in den Ideen über den großen Zusammenhang, der zu den Geisteswissenschaften führt: ein Wert, der unabhängig ist von dem transzendentalphilosophischen Standpunkt in der Begründung der Geisteswissenschaften, den Novalis einnimmt. Olshausen will den Ausdruck »Realpsychologie« im Sinne einer »Weltpsychologie« (»Wissenschaft des Makrokosmos«) deuten. Aber wie könnte die Äußerung, »Baader sei ein realer Psycholog«, der »die echte psychologische Sprache spricht«, von der Konstruktion der Weltseele verstanden werden! Der einzige Grund, den Olshausen für diese künstliche Auslegung angibt, ist hinfällig. Er beruft sich darauf, daß nur eine solche kosmische Psychologie, aber nicht eine solche des Einzellebens in den damaligen Schriften Baaders sich finde. Ich verweise hiergegen auf Baaders kleine Schrift »Beiträge zur Elementarphysiologie« 1797 (wieder abgedruckt in Sämtl. W. 1. Hauptabt. Bd. III, S. 203-246, doch hier mit späteren Zusätzen). Außer S. 59 sind hier der ganze Anhang S. 73-88 und der Zusatz S. 89. 90 zu beachten. Es finden sich nun bei Novalis in einer Partie der Fragmente solche, die augenscheinlich unter der Einwirkung von Baader und dieser Schrift stehen. Von diesem Verhältnis abgesehen, macht ferner Simon (»Der magische Idealismus« Heidelberg 1906, S. 16) mit Recht geltend, daß auch das bei Novalis der Stelle über Realpsychologie Folgende für meine Auffassung spricht. Ob es jetzt oder künftig möglich sei, einen einheitlichen, durch alle Phasen von Novalis hindurchreichenden Zusammenhang seiner Ideen aufzustellen, wie dies Haym und neuerdings ausführlich und scharfsinnig Simon versucht haben, lasse ich dahingestellt. Die Behauptung, daß die spezifische Differenz innerhalb des transzendentalphilosophischen Standpunkts, die Novalis in allen seinen Phasen charakterisiert, im Begriff des magischen Idealismus zu suchen sei, scheint durchaus unhaltbar zu sein. Die Formel knüpft an Baader an; der Hinweis auf die Harmonie zwischen »dem frühesten magischen System« und »den Resultaten der allerneuesten Philosophie« findet sich bei Baader S. 74 ff. (W. S. 239 f.). Unter den Stellen des Novalis (Minor II 192, III, 16. 97. 107. 333. 384) zeigt S. 97 mindestens eine Wandlung im Sprachgebrauch: »magischer Idealismus«. Vgl. auch, Walzel, Euphorion XV, 610 ff. 792 ff.

3. Den Ofterdingen bezeichnet Haym als ein »traumhaft verworrenes Gebilde« (S. 387), das nur durch die Beziehungen zu den persönlichen Erlebnissen des Dichters einen natürlichen Halt bekomme. Er lehnt demgemäß die von mir entwickelte Auffassung des metaphysischen Zusammenhangs im Ofterdingen ab. »Es hieße die Ansicht des Dichters rationalisieren, wenn man annehmen wollte, daß seine Erzählung wesentlich auf dem Gedanken der Metempsychose ruhe. Seine Ansicht ist um vieles unhistorischer und mystischer« (S. 386). Und zudem gewähre die Seelenwanderungshypothese für die schließliche absolute Verklärung der Wirklichkeit, die Verwandlung des Romans in das Märchen, keine Aufklärung. »Die Wahrheit ist: diese Hypothese spielt allerdings sowohl in der Weltanschauung wie in dem Roman Hardenbergs eine Rolle, aber doch nur eine Nebenrolle.« Hier

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liegt erstlich ein Mißverständnis vor. Daß der Ausdruck »Seelenwanderung« »unzutreffend« sei, habe ich selbst hervorgehoben. Daß doch Vorstellungen dieser Art »in die Erzählung hineinspielen«, leugnet auch anderseits Haym nicht; denn in der Identität der Personen im Roman ist sie ausgesprochen (Schriften, herausgegeben v. Tieck5 I S. 119, 121, 223, 242). Aber dieser Gedanke darf nicht im Verstande einer wissenschaftlichen Theorie genommen werden. Sein Schwerpunkt liegt in der Annahme, daß eine in der Vergangenheit bestimmte Ordnung der Seelen zueinander die Bedingungen für ihre Beziehungen in der Gegenwart enthält, gleichviel wie jene jenseitige Ordnung und ihr Zusammenhang mit dem Geschehen im Diesseits zu denken sei. Das, was von dem Roman vorliegt, gibt nun allerdings keinen Aufschluß über diesen Zusammenhang. In welcher Verbindung der Dichter auf der Grundlage einer solchen Anschauung von dem Verhältnis des jenseitigen und des irdischen Lebens die Wiederkehr der Seelen auf der Erde mit dem gedacht hat, was uns Tieck über das Reich der Abgeschiedenen, die »Geisterkolonie«, berichtet, kann nur vermutet werden. Aber daraus folgt nicht, daß Novalis eine bestimmte Vorstellung davon nicht besessen habe. Wie bei den Lehrlingen, so verfällt auch hier Haym in den Fehler, aus dem Mangel abschließender Aufklärungen, der durch den fragmentarischen Charakter dieser Dichtungen hinreichend verständlich ist, eine Unentschiedenheit oder Verworrenheit des Autors zu folgern. Er hat sich ferner hier wie in seinem ganzen Buche die Frage nicht vorgelegt, welchen Anteil da, wo ein Zusammenhang sich verbirgt, hieran die Prinzipien der Darstellungskunst bei den Romantikern haben. Ein Dichter, der vollständig den Plan seines Werkes im Kopfe hatte – und so viel geht doch aus dem Bericht von Tieck hervor –, sollte in dem Werk, welches die metaphysische Natur des Lebens, das Verhältnis des sichtbaren Lebensverlaufes zum unsichtbaren umfassen sollte, keine bestimmte Ansicht über den Zusammenhang beider Welten zugrunde gelegt haben! Vom Schaffen eines bedeutenden Dichters aus gesehen, ist diese Anschauung gänzlich unmöglich. Der ganze Plan und Zusammenhang des Ofterdingen kann erst in volles Licht treten, wenn die erforderlichen chronologischen Untersuchungen vorliegen.

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Letzte Änderung am 06.11.2004.
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