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Wilhelm Dilthey: Novalis. In: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 141965. S. 187-241, hier S. 210-220.

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Hardenberg wollte in einer Enzyklopädie dem Grundgedanken der Zeitphilosophie die Summe der erworbenen Anschauungen unterwerfen. Es war das der innerste Drang der philosophischen Zeitgenossen. Friedrich Schlegel trug sich jahrelang mit derselben Absicht. Schelling verwirklichte sie in seinen »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« durch einen ersten Entwurf. Hegel erst vollendete in seiner Weise, was ihnen allen vorschwebte. Die Aufzeichnungen Hardenbergs enthalten die Gedankenkeime eines solchen Ganzen.

In ihnen liegt seine Bedeutung für den wissenschaftlichen Geist seiner Zeit. Wir können hier nicht darstellen, wie sie sich zu den gleichzeitigen Äußerungen Friedrich Schlegels, Schleiermachers, Schellings verhalten. Die Jahre von der Wirksamkeit Fichtes in Jena bis zur Gestaltung der Naturphilosophie und dann, einige Jahre später, bis zur Philosophie der moralischen Welt sind eine Periode ungeheurer Gärung, kühnster Entwürfe, um die positiven Wissenschaften der Natur und des Geistes den Prinzipien der Wissenschaftslehre zu unterwerfen. In solchen Epochen soll man nicht pedantisch Prioritätsfragen nachgehen und überall sehen wollen, wie die Ideen aus einem Kopfe in den anderen übergehen. Wir haben eine belehrende Analogie an der Gegenwart. Das natürliche Problem, welches aus der gegenwärtigen Lage unserer Wissenschaften entspringt, den geschichtlichen Wissenschaften eine strengere wissenschaftliche Grundlage zu geben, ruft an den verschiedensten Punkten, in ganz verschiedenen Ländern, völlig unabhängig voneinander, verwandte Lösungsversuche hervor. Von vielen, die heute noch nicht über diese Frage das Wort ergreifen, sind doch auch solche Versuche vielfach erwogen worden. Wenn jemand mit einem Lösungsversuche heraustritt: so wäre sehr unbillig, seine Gedanken als Abwandelungen, Umgestaltungen der

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von anderen geäußerten zu behandeln. Die Bedingungen, unter welchen nun damals diese Männer nebeneinander ihre Ideen ausbildeten, lagen in der Philosophie Fichtes, in dem Sieg einer dynamischen Naturerklärung durch Kant und einer Reihe naturwissenschaftlicher Fortschritte, welche dieses Übergewicht auch empirisch zu begründen schienen, und zugleich in der ästhetischen Kultur, welche sich mit Fichtes Philosophie auseinanderzusetzen suchte.

Diese Bedingungen, welche in der damaligen intellektuellen Kultur lagen, brachten zunächst naturphilosophische Versuche hervor.

Man hat Novalis als einen Vorläufer der Schellingschen Naturphilosophie dargestellt, ja ihn unter die Quellen gerechnet, aus welchen Schelling geschöpft habe. Das letztere ist eine ganz unbewiesene Annahme. In dem, was Novalis selbst 1798 von Ideen veröffentlicht hat, befinde sich gar nichts Eigentümliches zur Naturphilosophie. Die in den Lehrlingen von Sais herrschende Naturbetrachtung ist poetisch ganz original; aber mußte Schelling den Gedanken, daß die entschleierte Natur der Geist sei, von Novalis erhalten? Vielmehr die Schrift von der Weltseele ist mit Novalis' Entwurf der Lehrlinge gleichzeitig, überhaupt mit seinen Freiberger Naturstudien. Beide sahen die Natur mit dem Auge des Fichteschen Systems: dieselben Bedingungen brachten in ihnen eine verwandte Form des Pantheismus hervor. Ich kann aber auch in dem, was dann später, als seine Studien in Freiberg reifer wurden, entstand, wenig sehen, was dem festeren Bau einer Naturphilosophie hätte eingefügt werden können. Die Hymnen auf die Mathematik sind schließlich unfruchtbar. Ja Novalis spielt mit dem mystischen Begriff einer echten Mathematik, die im Morgenlande zu Hause sei, in Europa aber zur bloßen Technik ausgeartet sei. In derselben Weise werden die Theorien des Galvanismus und der Brownschen Heilmethode durch eine grenzenlose Verallgemeinerung zum leeren, durch kein besonnenes Studium gestützten Spiel mit den Anschauungen der Reize, der Erregungen, der Galvanisation. Wo dagegen in die Tiefe dringende Bemerkungen auftreten: da gehören sie einer dichterischen Anschauung der Natur an. Zuweilen scheinen sie geradezu Stoff seiner poetischen Arbeiten zu sein, daher sie denn auch, mitten unter wissenschaftlichen Notizen, viele Mißverständnisse erregt haben. Überall aber durchdringt ein Geist dichterischer Gestaltung seine Theorien. So wenn er etwa sagt: mit der Welt entsteht die Begierde, ein Hang zum Zerfließen oder die Schwere.

Diese naturphilosophischen Ideen sind daher vielmehr ein Glied in der Entwickelung dichterischer Naturanschauung. Diese Entwickelung gehört zu den am meisten bezeichnenden Zügen unserer modernen Dichtung. Wie in ihr wissenschaftliches Naturstudium

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und dichterische Naturanschauung zusammengingen, wie in Goethe beides vereinigt war, wie die Poesien von Novalis und Steffens diesen Weg verfolgten und Tieck, obwohl positiven Studien gegenüber ungeduldig, ihnen in diesen Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Naturstudium zu folgen suchte, wie auf der anderen Seite Alexander von Humboldt und Johannes Müller, die großen Naturforscher, von der freien Naturanschauung dieser Epoche einen Anstoß zu dauernder Bewegung erhielten –: diese Wechselwirkung gab unserer Dichtung wie unserer Naturforschung in dieser Periode gleicherweise ihr Gepräge.

Dagegen finde ich die Gedanken Hardenbergs über die Wissenschaften des Geistes von hervorragender Originalität. Seine Ideen verdienen hier neben denen von Friedrich Schlegel und Schleiermacher, inmitten der Gärung um die Wende des Jahrhunderts, ihren Platz. Insbesondere dadurch, daß er vermöge der weiten Umschau, welche ihm seine naturwissenschaftlichen Studien gaben, für die Wissenschaften des Geistes einen fruchtbaren Einheitspunkt ergriff, ganz abweichend von denen der Systeme Schleiermachers und Hegels – und uns Heutigen weit näher gelegen. So paradox es erscheint: dem Gesichtspunkt, welchen er faßte, entspricht am meisten das System Schopenhauers, auf seinen ursprünglichen Wurf im Ganzen angesehen.

Wir kennen eigentlich nur das, was sich selbst kennt. Von diesem tiefsinnigen Gedanken aus erscheint die Konsequenz natürlich: die Natur ist unbegreiflich per se. Sie ist es gar nicht aus einem zufälligen Grunde, sondern sofern das Licht des Bewußtseins sie nur von außen trifft. Sie erscheint nun aber als ein Universaltropus des Geistes, d. h. als ein symbolisches Bild desselben. Demgemäß ist sie durch diesen allein verständlich. Und wie nun Hardenberg in betreff des innersten Geheimnisses unserer selbst in unaufhörlichen Vermutungen begriffen ist: so sieht er auch das diesem entsprechende Innerste der Natur wie in den wechselnden Beleuchtungen solcher auf- und absteigender letzter Konzeptionen. »Die Welt ist eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft.« Dann wieder erscheint ihm das Herz als der Schlüssel der Welt. Oder er findet, daß wir immer zuletzt an den Willen stoßen, als hervorbringenden Grund. Dieser Wechsel, vermöge dessen das ganz voneinander Abstehende wie Schatten ineinander verfließt, liegt in der Natur dieser Konzeptionen. Er erscheint schon in Jakob Böhme, dessen Einfluß hier, wie in Schellings späterer Epoche und in Schopenhauer sichtbar ist. Ganz deutlich ist nur die negative Erkenntnis, daß die Welt, wie wir sie nicht anders als nach Analogie unseres Ich aufzufassen vermögen, nicht aus der Vernunft, als dem Grundcharakter desselben erklärt

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werden könne, sondern aus einer gärenden Tiefe dieses Ich, welche, uns selber Geheimnis, in Wille, Gemüt oder Einbildungskraft mindestens ebenso primär hervorbreche.

Das Problem der Welt löst sich uns demnach, soweit es überhaupt auflösbar ist, durch die Anschauung unseres eigenen Inneren. Das wunderbarste Phänomen ist das eigene Dasein. Das größte Geheimnis ist der Mensch sich selbst. Die Wissenschaft aber, welche es mit diesem höchsten Phänomen zu tun hat, ist die Realpsychologie. »Baader ist ein realer Psycholog und spricht die echte psychologische Sprache. Reale Psychologie ist vielleicht auch das für mich bestimmte Feld.« An anderen Stellen bezeichnet er dieses grundlegende Studium, auf welchem die Wissenschaften des Geistes in erster Linie beruhten, auch als Anthropologie. Vor allem ist ihm Anthropologie die Basis der Menschengeschichte. Er findet, daß der höchste Gehalt der Geschichte die Auflösung der unendlichen Aufgabe sei, das Geheimnis zu enthüllen, welches der Mensch sich selber ist. Er antizipiert hier völlig Hegels Gedanken, daß der Höhepunkt aller Geschichte die werdende Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes sei. Er findet auf der anderen Seite, daß die reale Psychologie oder Anthropologie den unendlichen Gehalt der menschlichen Natur nur an seiner Entwickelung in der Geschichte zu studieren vermag. Hiermit antizipiert er einen uns naheliegenden Standpunkt.

In sehr bemerkenswerter Weise zeigt dieser Gedanke einer Realpsychologie die innere Verwandtschaft der Bestrebungen dieser Epoche, in ihrem Ursprung, mit denen der Gegenwart. Wir bedurften lange Zeit der schärfsten Empfindung des Gegensatzes dieser seit Fichte hervorgetretenen verschiedenartigen Arbeiten gegenüber einer wahrhaft exakten Psychologie. An dem Punkte angelangt, die Erklärung aller seelischen Phänomene aus den Gesetzen, nach welchen sich in der Seele Vorstellungen zueinander verhalten, als unzureichend anzuerkennen, sind wir in der Lage, den innersten Gehalt von Bestrebungen gerechter zu würdigen, von denen ganz gleichmäßig, bei der größten Verschiedenheit der Ideenkreise, geniale Naturen wie Schleiermacher, Hegel, Schopenhauer bewegt wurden.

Was heißt Realpsychologie? Eine Psychologie, welche den Inhalt unserer Seele selber zu ordnen, in seinen Zusammenhängen aufzufassen, soweit möglich zu erklären unternimmt. Indem ich die Gesetze erforsche, nach welchen Empfindungen sich in Vorstellungen ausbilden und Vorstellungen sich zueinander verhalten: so finde ich nichts als Formen, innerhalb deren die Seele tätig ist. Liegt in diesen Formen der zureichende Erklärungsgrund für die Verwandlung der Empfindungen, in welchen unsere Seele auf die

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Reize antwortet, in das zusammenhängende Ganze menschlicher Weltansicht? Angeborene Ideen, Kategorien und Grundsätze haben die beiden großen älteren deutschen Philosophen diesen Gesetzen als einen zweiten Faktor gegenübergestellt. Die Bedeutung des Problems wird aber erst in seinem ganzen Umfang gesehen, sobald man erkennt, daß die Phänomene des Willens und der Gefühle auf die Verhältnisse der Vorstellungen nicht zurückführbar sind. Wenn Spinoza von der Selbsterhaltung ausgeht, wenn Kant in dem Sittengesetz eine eigene aus dem Vorstellungsleben nicht erklärbare Wurzel unserer moralisch-religiösen Weltansicht erkennt: so ergibt sich von hier aus eine noch viel weiterreichende Erklärung des Inhaltes unserer Seele. In dieser Richtung weiterschreitend, erblicken wir Schleiermacher, Hegel, Schopenhauer. Es sind Anfänge. Wir heute müssen unseren eigenen Weg uns bahnen, aber doch mit dem Gefühl, daß andere vor uns mit diesen höchsten Problemen rangen, mit beständigem Rückblick auf ihre Arbeiten, so ganz unvollkommen auch die Methode derselben war.

Demgemäß ist von ungemeinem Interesse zu sehen, wie unter dem Gesichtspunkte einer solchen Realpsychologie Hardenberg mit dem wunderbaren Reichtum und der Rätselhaftigkeit der Phänomene rang, welche der menschliche Geist, die Menschengeschichte darbietet. Sein Gesichtspunkt selber gab ohne weiteres ganz verschiedenen Disziplinen die denkbar größte Einheit. Die Ethik, die Religionsphilosophie, die Ästhetik, die Philosophie der Geschichte, sie alle betrachten von verschiedenen Seiten dasselbe grenzenlose Gewebe von Erscheinungen. Es war schon für sich von großem Werte, unbeirrt von künstlichen Trennungen und der sich an sie knüpfenden Tradition die inneren Zusammenhänge selber zu überblicken. Eine solche aus dem Zusammenhang des seelischen Gehaltes selber sich zwanglos, mit klarer Größe entwickelnde Einheit, ungehindert von willkürlichen Abgrenzungen der Fächer, gibt dem Werke Schopenhauers von 1818 ein so künstlerisches Gepräge, daß selbst die Einsicht in die Willkür, welche diesen Zusammenhang ersann, nicht völlig die Freude an dem freien und großen Geiste der Architektur des Ganzen zu vernichten vermag.

Aber diese Einheit der seelischen Phänomene lag nur in Hardenbergs Wünschen; wer kann sagen, wieviel ihm hier in reiferen Jahren gelungen wäre? In dem, was wir haben, ist noch lauter Schwanken. Am besten verdeutlicht diese Wünsche und diese Unsicherheit folgende Aufzeichnung: »Sonderbar, daß das Innere der Menschen nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehört auch zu den Larven, welche die Stellen im Heiligtume eingenommen haben, wo echte

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Götterbilder stehen sollten. Wie wenig hat man noch die Physik für das Gemüt und das Gemüt für die Außenwelt benutzt. Verstand, Phantasie, Vernunft, dies sind die dürftigen Fachwerke des Universums in uns. Von ihren wunderbaren Vermischungen, Gestaltungen, Übergängen kein Wort. Keinem fiel es ein, noch neue ungenannte Kräfte aufzusuchen und ihren geselligen Verhältnissen nachzuspüren.«

Aber es scheint, als ob auch diese noch schwankenden Anschauungen dahin neigten, wie bei Fichte, Schelling, Schopenhauer geschah, im Willen den elementaren Grund des menschlichen Daseins zu erblicken. »Im Grunde lebt jeder Mensch in seinem Willen.« Demnach vermag der Mensch, was er will; ja von der unwandelbaren Richtung unseres freien Willens scheint sogar die Form unserer Fortexistenz abhängig zu sein.

Hardenberg versucht nun die Natur des Willens durch den aus Browns physiologischem System aufgenommenen Begriff der Erregbarkeit, des Verhältnisses zu den Reizen zu beleuchten. Die Mannigfaltigkeit der Reize wächst mit der Höhe der Organisationen; auf ihr beruht unsere Freiheit. Je einfacher der Mensch lebt und gereizt wird, desto mehr ist er gebunden, unfrei. Demgemäß ist die Seele um so stärker, erregbarer, je komplizierter, mannigfaltiger sie ist. Widerstandskraft und Auswahl den Reizen gegenüber ist das Resultat einer solchen Bildung des Willens. Dagegen bestimmt der zufällige Reiz den Ungebildeten; er sucht in dem ihn so berührenden Gegenstande alles, denn er fühlt durch denselben sein unendliches Wesen in dunkler Ahnung. Daher denn auch dem Menschen ein leidenschaftlicher Zustand um so ahndungsvoller und behaglicher dünkt, je schwächer er selber ist.

Von hier aus unterscheidet er Unlust als Mangel an Trieb, Kraft, Reiz, Stoff vom Schmerz als einem heftigeren Umtrieb oder Gegentrieb. Die Natur des Schmerzes beschäftigt ihn beständig, entsprechend den starken subjektiven Impulsen seines Nachdenkens, welche ihn auch auf die Natur der Krankheit immer wieder zurückführten. »Es ist die Möglichkeit eines unendlich reizenden Schmerzes da.« Sehr nahe streifte er in diesem Suchen an den wichtigen Gedanken, daß Lust und Unlust doch nur eine sehr rohe und unangemessene Bezeichnung für das Eigentümliche in der Welt unserer Gefühle sind.

Von demselben Punkte aus experimentierte er, sozusagen, mit den Verhältnisbeziehungen zwischen Reiz, Erregung und Trieb. Sehr tief berührt er hier die Bedeutung der Illusion für die Geschichte unseres Willens; die Befriedigung ist ihm die Auflösung eines illusorischen Problems, »die Selbstverbrennung einer Illusion«. Er verfolgt den Gedanken von der Bedeutung dieser Täu-

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schungen ohne jeden Anklang an die pessimistische Folgerung, welche Schopenhauer später aus ihm zog. Vielmehr enthält ein kleiner anmutiger Dialog die entgegengesetzte romantische Konsequenz. Es gilt das Leben wie eine schöne genialische Täuschung, wie ein Drama anzusehen: dann, im vollen Bewußtsein der zeitlichen Illusion, welche das Leben ist, haben wir schon hier im Geiste absolute Lust und Ewigkeit.

Aber mitten in aller Selbstbetrachtung bleibt der menschliche Geist sich selber ein Rätsel. »Die Geschichte der Philosophie als der Wissenschaft im Großen, der Literatur als Substanz enthält die Versuche der idealen Auflösung dieses idealen Problems – dieser gedachten Idee.« Demgemäß ist die wahrhafte Weltgeschichte nichts als die Auflösung der unendlichen Aufgabe, welche für den Menschen in dem Geheimnis seines eigenen Wesens liegt. Hieraus folgt, daß erst in dem Augenblick die Erhebung der Geschichte zu wahrhaft wissenschaftlichem Begreifen möglich ward, in welchem der menschliche Geist sich selber durchdrang, in sich selber den typischen Keim einer unermeßlichen Welt fand und nunmehr in der Entfaltung desselben in dem Verlauf der Weltgeschichte ein eigenes durchaus erklärbares Ganzes erkannte.

Aus diesem Wesen der menschlichen Seele folgt die höchste Aufgabe unserer intellektuellen und moralischen Kultur. »Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein.« »Man muß notwendig erschrecken, wenn man einen Blick in die Tiefe des Geistes wirft. Der Tiefsinn und der Wille haben keine Grenzen. Es ist damit wie mit dem Himmel. Ermüdet steht die Einbildungskraft still – hier stoßen wir nun auf die geistige Lebenskonstitutionslehre, und das Moralgesetz erscheint hier als das einzige wahre große Graderhöhungsgesetz des Universums, als das Grundgesetz der harmonischen Entwickelung.«

Welche Bedeutung kann nun im Zusammenhang solcher Ideen der Religion und dem Christentum zukommen? Hier muß sich entscheiden, welche Stellung jene subjektiven Motive einer Abwendung von der Welt und die Fortgestaltung derselben zu einem katholischen Ideal im Ganzen seines Denkens haben konnten. Hier muß sich entscheiden, ob Tieck recht hatte, wenn er alle katholischen Folgerungen aus Hardenbergs Wirken herb abweist und seine Stellung völlig von der Friedrich Schlegels absondert.

Was Hardenberg vor dem Erscheinen der Reden über die Religion veröffentlicht hat, geht nur in einem Punkte untersuchend auf das Wesen der Religion ein. Nichts sei zur wahren Religion unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbinde. In der Wahl desselben müsse der Mensch schlechterdings frei sein.

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Hier eröffne sich eine Entwickelung, die von Fetischen, Gestirnen[,] Tieren weiterschreite zu Helden, Götzen, Göttern, endlich einem Gottmenschen. Er versteht nun unter Pantheismus die Idee, daß alles Organ der Gottheit Mittler sein könne, indem der Glaubende es dazu erhebe, unter Monotheismus dagegen den Glauben, daß es nur ein solches Organ in der Welt für uns gebe. Von diesem Gedanken gehen verwandte Ideen in den Reden über die Religion aus. Andererseits aber rief nun diese Schrift erst in Novalis ein zusammenhängendes Nachdenken über Religion und Christentum hervor. Und zwar sucht dasselbe, abweichend von der Richtung der Reden, vermöge einzelner psychologischer Intuitionen sich dem Ganzen dieser Phänomene zu nähern.

Er bezeichnet das Herz gleichsam als das religiöse Organ. »Indem das Herz, abgezogen von allen einzelnen wirklichen Gegenständen, sich selbst empfindet, sich selbst zu einem idealischen Gegenstande macht, entsteht Religion.« Auch hier also ist die Gottheit der Schatten, welchen das Ich wirft. Von Fichte bis auf Feuerbach ist dieser Gedanke immer wieder ausgeführt worden.

»Noch ist keine Religion. Man muß eine Bildungsschule echter Religion erst stiften.« Es gibt aber keine Religion, die nicht Christentum wäre. Die Grundzüge der Religion sind im Christentum sehr tief verwirklicht. Auch hier das merkwürdige, diese romantische Religion bezeichnende Schwanken. Von einer neuen Bibel, von ganz neuen Evangelien spricht Hardenberg; er scheint in Erwartung ganz neuer religiöser Entwickelungen; und dann erblickt er doch wieder in den Grundzügen des Christentums die Grundzüge aller Religiosität überhaupt. Gerade an diesem am meisten von Hardenberg erwogenen Punkte widersprechen sich am stärksten seine Äußerungen aus verschiedenen Zeiten, welche leider in den Fragmenten ganz willkürlich durcheinandergeschoben sind.

Der Grundcharakter des Christentums ist Negativität. »Absolute Abstraktion, Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft, dieser eigentlich besseren Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christentums.« Das Christentum steht in Opposition mit Wissenschaft und Kunst und eigentlichem Genuß. Es ist der Keim alles Demokratismus, indem es auf den bloßen guten Willen im Menschen und seine eigentliche Natur, ohne alle Ausbildung, Wert legt. Ein zweiter Grundzug ist eine unendliche Wehmut. Sollen wir Gott lieben, so muß er hilfsbedürftig sein wie er im Christentum erscheint.

Wenn schon diese letzte Ansicht wieder auf die Reden über die Religion hinweist: so ist das noch mehr in bezug auf die spezifischen Dogmen des Christentums der Fall. Auch ihm ist alles Wunder, oder, mit einer anderen Wendung, wahrhafte Überzeugung,

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diese höchste Funktion unseres Gemüts und unserer Personalität, das einzige wahre gottverkündende Wunder; der Wunder höchstes, in verwandter Wendung, eine tugendhafte Handlung, als ein Aktus der freien Determination; jeder Tod ein Versöhnungstod: kurz das Historische des Christentums allgegenwärtig.

Er überschreitet diese Linie noch in paradoxen Bemerkungen, nach welchen Christi Geschichte ebensosehr ein Gedicht sei, der Inhalt der Bibel auffallende Ähnlichkeit mit einem Märchen habe: eine Bibel sei die höchste Aufgabe der Schriftstellerei. Dann aber ruft er sich – jenen eigenen phantastischen Hang pflegend, der mit seinem Geschick und seiner Krankheit, aber nicht mit seinen Ideen zusammenhing – selber zu: ich muß ordentlichen Aberglauben zu Jesus haben. Der Aberglaube ist überhaupt notwendiger zur Religion als man gewöhnlich glaubt. Nur durch jenen realistischen Trieb, demgemäß er auch den Zusammenhang zwischen Religion und Wollust mehrmals hervorhebt, hängen solche Gedanken mit seinen übrigen zusammen.

Will man so sein innerstes Verhältnis zum Christentum erfassen: so tritt zunächst ein grenzenloses Bedürfnis wahlverwandten Verstehens und Genießens der christlichen Gemütsstimmung gegenüber hervor. Da ist kein Bemühen um kritische Wahrheit; keine Andeutung wäre zu finden, daß er die Geltung des Christentums inmitten unserer modernen Kultur jemals mit objektivem Geiste erwogen hätte. Sein dem Christentum wahrhaft wahlverwandter Geist möchte von den wunderbaren Kräften desselben so viel in sich aufnehmen, als ihm, wie er nun einmal ist, möglich ist. Hieraus entsprang für das historische Verständnis des Christentums ein ungemeiner Impuls. Man kann sagen, daß die Vertiefung des Gemüts in die christliche Epoche mit ihm und seinem Freunde Friedrich Schlegel begann.

Und zwar geschieht diese Vertiefung sozusagen mit größerer historischer Wahlverwandtschaft in ihm als in irgendeinem seiner Freunde. Denn dieselbe gab nur einem Elemente Gestalt, das schon in ihm lebte, ja das sich zum Herrn seines Lebens gemacht hatte. Er lebte in der jenseitigen Welt. Sie war in Wirklichkeit die Heimat seines Herzens. Das gab seinem Christentum gegenüber dem seiner objektiv auffassenden Freunde und Genossen, insbesondere Schleiermachers, ein ganz verschiedenes, ganz eigenartiges Gepräge.

Wie er demnach das Christentum ergriff, war es ihm ein Mittel, alle Tiefe und Fülle des Herzens, mit welcher er an der geheimnisvollen Welt hing, die ihm Heimat war, aus grenzenloser Weite der Phantasie zu bestimmtem Bild und abgegrenztem Glauben zusammenzuziehen. Wie die Kirche Mittel fand, die grenzenlos

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schweifende Andacht und Sehnsucht des Herzens an bestimmte Gegenstände und Formeln zu heften: ein solches Allerheiligstes, an welches sich seine Empfindungen knüpfen dürften, war hier das Christentum. Das unbestimmte Antlitz der jenseitigen Welt schien in ihm aus der Dämmerung hervorzutreten.

War er ein gläubiger Christ? Darauf soll man nun einmal schlechterdings mit einem fröhlichen Ja oder einem runden Nein antworten können! Man sollte vielmehr ein für allemal davon ausgehen, daß wir Modernen uns zum Christentum vollkommen anders verhalten als in den sechzehnhundert Jahren vor der Begründung des wissenschaftlichen Geistes geschah. Die Summe von Begebenheiten, welche überliefert wurde, der innerliche Gehalt eines tausendjährigen Gemütslebens, das vom ersten Beginn ab darin lebendig sproßte und blühte, sind auch den Tiefstreligiösen unter den Vertretern der modernen Wissenschaft, sie sind auch den Pascal, Leibniz, Schleiermacher, Fichte, Niebuhr, Savigny niemals eine Macht gewesen, welche ihr Dasein gefangen nahm: ich wage zu behaupten, daß nicht nur in dem historischen und ideellen Gehalt, welcher aufgenommen wurde, ein Unterschied war, sondern auch, was viel wichtiger scheint, in der Form der Überzeugung.

Auf einem ganz Europa umspannenden Schauplatz, in einer beispiellosen Sukzession der genialsten wissenschaftlichen Kräfte, wie sie eine solche Basis allein möglich macht, hat der moderne wissenschaftliche Geist von der Entdeckung der Mechanik des Himmels ab bis auf diesen Tag, an welchem die Kräfte der Gesellschaft und der Geschichte unser begeistertes Studium beschäftigen, seine siegende Laufbahn begonnen. Wir wissen, daß die Zukunft sein ist. Wir wissen, daß er bestimmt ist die Welt umzugestalten. Die einsame Seele des Forschers ist seit jener Zeit erfüllt von dem edelsten Machtgefühl des Menschen. Die Erscheinungen Gesetzen unterwerfen, vermöge dieser Gesetze den Gang der Erscheinungen lenken, zu solchen Mitteln dem Menschen, auch dem letzten, das volle vorurteilslose Selbstgefühl seiner Bestimmung geben, das will dieser siegreiche Geist, der sich mit Kepler und Galilei seine Grundlage schuf. Von ihm erfüllt sein, das heißt leben.

Keine wahrhaft kräftige, die Wissenschaft in ihrer Größe zu fassen befähigte Intelligenz hat anders als im Vollgefühl dieser Bewegung gelebt. Bald in zürnender Leidenschaft, bald in heiterer Sammlung, in allen Formen, in allen Begrenzungen war sie der Lebensinhalt jedes wahrhaft fruchtbaren intellektuellen Kopfes seit zwei Jahrhunderten. Demgemäß konnte auch das Christentum nur unter dem Gesichtspunkte dieses Interesses aufgefaßt werden. Die Be-

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leuchtung der christlichen Tatsachen und Dogmen war also bedingt durch die Stelle in dem Gang und den Kreisen dieses wissenschaftlichen Geistes, von welcher aus dieselben gesehen wurden. Die Philosophen suchten den Widerschein der Ideen in den Dogmen und Tatsachen; also fiel für sie die dogmatische Form und die historische Faktizität in verschwimmende Dämmerung. Die Historiker waren erfüllt von den Wirkungen des Christentums, von seiner geschichtlichen Macht; die Tatsächlichkeit der überlieferten Historie desselben ward von den Moser, Niebuhr, Savigny mit Sehnsucht und Pietät behandelt, nie aber mit dem festen Glauben, dessen Maßstab sie von anderen Teilen der Geschichte her besaßen. Bei den Naturforschern steht das Christentum am Rande des Horizontes ihrer Forschung; wie diese sich erweiterte, ist es immer mehr zurückgedrängt worden. Ein Maßstab methodisch gewonnener, strengbegründeter Gewißheit ergibt sich aus dem wissenschaftlichen Studium; seitdem eine mathematische Naturwissenschaft, eine kritische geschichtliche Methode bestehen, kann nichts diesen Maßstab strengen Wissens mehr er[s]chüttern. Dagegen war bis zum Eintreten dieser Tatsache das Verhältnis der Überzeugungsgrade geradezu das entgegengesetzte: alle menschliche Wissenschaft mußte der göttlichen Offenbarung gegenüber völlig ungewiß und wie Schatten schwankend erscheinen. Aus diesem neuen Verhältnis ergeben sich die modernen Religionstheorien nicht nur der Philosophen, sondern ebenso der protestantischen Theologie, welche das Mittelalter, ja welche auch Luther nicht einmal verstanden hätte. Historie und Dogma treten in ihnen zurück hinter den ganz inneren Zusammenhang mit dem Gemütsleben, und indem so das Christentum in seiner wahren Heimat, gleich einem zurückgedrängten Welteroberer, sich festigt und seine Grenzen aufrecht erhält, treten jene kühlen Überzeugungsgrade zurück hinter den ganz heterogenen Gesetzen, welche im Gemüt gelten, Gesetzen, welche in den Erscheinungen von Liebe, Sehnsucht, Bedürfnis, Friede des Herzens überall von der Beziehung der Ideen auf den in Lust und Leid, in Verlangen und Trieb bewegten Mittelpunkt unseres Daseins bestimmt werden.

Dieses moderne Verhältnis zum Christentum muß begriffen sein, indem man unternimmt, einen aus der Zahl der intellektuell begabten Männer zu würdigen, welche ein bestimmtes Verhältnis zum Christentum auszusprechen und zu fixieren bestrebt waren. Sonst entsteht jenes Nörgeln, Beschnüffeln, Bemängeln innerster Überzeugungen, welches das Verhältnis des Menschen zu den letzten Geheimnissen der Welt, dies Verhältnis, das uns so klein macht und so groß, in flacher kritischer Zusammenstellung kontrastierender Äußerungen völlig verkennt.

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Letzte Änderung am 06.11.2004.
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