Wilhelm Dilthey: Novalis. In: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 141965. S. 187-241, hier S. 200-210.
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Nun machten sich aber doch bereits neue Elemente seines Lebens geltend, um ihn aus so pathologischen Zuständen zu einer allgemeinen religiös-wissenschaftlichen Ansicht zu erheben.
Er hatte die erste Zeit nach dem Tode Sophiens ruhelos, bald bei den Seinen, bald auf kleinen Reisen zugebracht. Mit dem Ende des Jahres 1797 war er nach Freiberg gegangen, um sich auf dieser hohen Schule des kursächsischen Bergwesens, die damals von
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europäischem Rufe zu werden begann, für die Bergwerksverwaltung zu vervollkommnen. Ein neues gewaltiges Ferment trat hier in seine naturphilosophischen Studien. Der geniale Ritter hatte ihm in Jena das Problem des Galvanismus nahe gebracht. Hier trat ihm nun der große Mineraloge und Geologe Werner entgegen, vor dessen wunderbar geübten Sinnen das Reich der Steinwelt als ein geordnetes System sich auftat und die Tiefen der Erde ihre Geschichte zu eröffnen begannen. Wir werden zeigen, wie die Lehrlinge von Sais aus diesen Anregungen erwuchsen. In dieser begeisterten Hingabe an Werner und die Geologie lag für ihn eine Art Befreiung aus so ängstigenden krankhaften Zuständen.
Und noch im Jahre 1798 gewann Julie von Charpentier, die Tochter des Berghauptmanns in Freiberg, sein Herz und damit vollendete sich eine Umgestaltung der Empfindungsweise gegenüber Sophien, welche für sein Leben wie für seine Poesie bedeutsam ist. Auch mitten in dem entwickeltsten Phantasieleben mußte sich das Bild Sophiens in seiner Seele verwandeln. Es verlor alle Individualzüge, welche sich auf die Verhältnisse der Erde bezogen. Was war nun ihre halb kindische Sprödigkeit, ihr Wunsch, daß er gefalle, ihr übermütiges Spiel mit dem Vater? Aus dem Innersten ihres Bildes erhob sich tiefste Innigkeit: diese verzehrte nun jeden Zug, welcher der Welt gehört hatte: nur durch sie durfte er ja mit ihr in Gemeinschaft zu stehen hoffen. Religiöse Motive boten sich dar für dies Verhältnis zu einer Abgeschiedenen. Sie trat gewissermaßen in die religiöse Weltordnung ein und vertrat ihm jene überirdische Weiblichkeit, welche in der gnadenreichen Himmelskönigin dargestellt ist. Glanz und Freude der Welt, Glück und Schicksal auf ihr, rührten sie nicht an. Aus seinem individuellen Schicksal erhob sich seine Verehrung Marias wie ein subjektives mythologisches Gebilde.
Und wie er so einem neuen Leben mit erwachenden Sinnen entgegenging, traten die Freunde zu ihm, in deren Gemeinschaft er seinen Ideenkreis vollenden, durch deren Anregung der Poet in ihm sich erheben sollte. Jene kurze Blüte der Romantik, welche das Jahr 1799 bezeichnet, durchlebte er mit ihnen.
Nichts ist falscher als zu glauben, daß man es in der Romantik mit einer einzelnen Richtung zu tun habe. Mit gewissen Modifikationen ist sie, wie wir schon hervorgehoben, nichts als die Generation, welche in den neunziger Jahren heraustrat und von 1790 bis 1800 jene entscheidende Lebensepoche durchmachte, welche zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahre liegt. Die Elemente intellektueller Kultur, die damals aus der früheren Generation vorlagen, waren in erster Linie die Poesie von Goethe und Schiller, die philosophische Revolution, in der Kant, Jacobi, Schil-
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ler und Fichte hervorgetreten waren, die gewaltige Bewegung und Gärung in den Naturwissenschaften. Höchst merkwürdig aber waren die Bedingungen, unter welchen nun diese Generation sich dem Erbe der vorhergegangenen gegenüber befand. Die erste und wichtigste ist rein negativer Natur: die Abwesenheit aller stärkeren Impulse, welche aus dem Leben selber gekommen wären. Der naturwissenschaftlichen Bewegung kam keine Industrie, kein Bedürfnis der Entdeckungen, kein Handelsstand, der diesem in der Wissenschaft ihm verwandten Element mit Teilnahme gefolgt wäre, entgegen. Ebenso standen der philosophischen Revolution Politik, Unterrichtswesen, Religion in völliger Unbeweglichkeit gegenüber, da sie doch allein in der Einwirkung auf die soziale, moralische und politische Welt gesund zu bleiben vermag. Die Dichter fanden keine große Stadt, von deren Schaubühne herab sie zu wirken vermocht hätten. Dafür alles in kleine Kreise zerfallend: eine genügsame, mäßig begüterte, vom Durst nach Geld und Genuß, mit dem der Weltverkehr erfüllt, noch nicht ergriffene Bevölkerung: in einem Grade, wie auf gleicher Kulturstufe wohl nie eine zweite es war, von einer nach innen gewandten Bildung befriedigt. Wie man diese Lage empfand und mit Bewußtsein aufnahm, zeigen parallele Stellen aller hier in Betracht kommenden Männer. Ich zitiere hier nur Novalis: »Deutschland geht einen langsamen aber sicheren Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höheren Epoche der Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die anderen im Laufe der Zeit geben.« Völlig schloß sich diese Bildung von der großen Masse der Bevölkerung und ihren Bedürfnissen ab.
Kann man billigerweise die Männer anklagen, welche unter diesen Bedingungen, mit ungemeinem Talent, unsere intellektuelle Kultur fortzubilden unternahmen? Ihre ruhelosen, zerstreuten Ansätze, ihre Paradoxie, die Künstlichkeit ihres Strebens: das alles, verglichen mit der grandiosen Ruhe, in welcher Goethe und Kant atmeten, ist ein erschütterndes Schauspiel. Am erschütterndsten darum, weil hier die Notwendigkeit geschichtlicher Bedingungen wie mit eisernen Armen edle bedeutende Kräfte umfangen hält. Innerhalb der Grenzen, in welche sie diese Bedingungen bannten, haben sie Ungemeines geleistet.
Nur muß man sich ihre Stellung gegenüber den Elementen der intellektuellen Kultur, die sie vorfanden, höchst verschieden denken. Die Ausgangspunkte eines A. W. Schlegel und eines Hardenberg, Friedrich Schlegels und Tiecks waren völlig heterogen. Ohne alle Frage stand Novalis geistig Hölderlin viel näher als etwa
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seinem Freunde A. W. Schlegel. Tieck hat nie mit Friedrich Schlegel mehr als äußere Berührungspunkte gehabt. Wenn man nun solche völlige Heterogeneität gewahrt: so wird die Frage höchst interessant, wie denn hier ein geschlossener Kreis entstehen konnte, ein Schutz- und Trutzbündnis, eine Schule.
August Wilhelm Schlegel, ein paar Jahre älter als seine Freunde, bildete den äußeren Vereinigungspunkt. Die Horen und die Jenaer Literaturzeitung zogen ihn aus einer holländischen Hauslehrerstellung nach Jena. Das ästhetische Bedürfnis des Publikums hatte, besonders in den Horen, sehr günstige buchhändlerische Verhältnisse für diese Jahre geschaffen. So durfte er seine Existenz seiner unendlich gewandten Feder anvertrauen. Er war die eigentlich journalistische Natur des Kreises, sein Genie in Kritik und Nachdichtung, in allem Nachschaffen und Nachverstehen, in allem Empfinden, Beurteilen, Nachgestalten war unvergleichlich. – Allmählich zog er seinen Bruder aus dessen philologischen Studien in diese allgemeine Schriftstellerstellung nach sich. Eine völlig andere Natur. Unter tiefen Ideen schwer ringend mit dem Ausdruck und eigentlich niemals, mitten unter Stilisten, ein guter Stilist. Ein Kopf von genialer Produktivität, der durch eine folgerichtige, aber grenzenlose Ausbreitung seiner Studien, vermöge deren seine schwerfällige Feder mit den buchhändlerischen Verhältnissen in den unglücklichsten Konflikt kam, seine äußere Existenz von vornherein zerrüttete. Sein Ausgangspunkt lag in der Altertumswissenschaft, den ästhetischen Ideen Schillers und der Philosophie Fichtes. – Die Verbindung Friedrich Schlegels mit Hardenberg war schon vom Jahre 1792 oder 1793, in dem sie sich in Leipzig zuerst begegneten. Daß sie sich weniger persönlich als in den Ideen nahestanden, zeigt eine Äußerung Friedrich Schlegels Schleiermacher gegenüber: »Du würdest Hardenberg sehr wohltun und ich fühle deine Wehmut sehr gut. Was mich betrifft, so habe ich's schon sehr lange nur mit seinem Geist zu tun, in den sich vielleicht keiner so finden kann wie ich, und das scheint er auch zu wissen. Übrigens sehe ich ganz hartherzig zu.« Das Athenäum ergab dann eine regelmäßigere Beziehung. – Sonderbarerweise war auch für Tieck, als dieser nun zu diesem Kreise hinzutrat, wieder Friedrich Schlegel, der ihm heterogenste, der erste Anknüpfungspunkt. So sehr war ein bloßer Zufall hier in den ersten Anknüpfungen tätig. Tiecks Briefe über Shakespeare, die Friedrich Schlegel für das Reichardtsche Journal Lyceum wünschte, boten die Anknüpfung. Friedrich Schlegel bittet ihn zu sich. »Mein Interesse an Ihnen und an der Poesie ist zu ernst. So etwas zerstreut sich gleich, wenn mehrere da sind. Ich bin in solchen Angelegenheiten sehr für die Zweisprach.« Auch nach Wackenroder, dessen
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Herzensergießungen in diesem Jahre erschienen waren, erkundigte er sich. Man sieht in eine eben anhebende Bekanntschaft zweier Männer, welche kein stark ausgesprochener Zug der Natur einander entgegentrieb. – Eine Nachschrift fügt hinzu, daß sein Bruder August Wilhelm große Freude an Tiecks Wirken und den persönlichen Nachrichten über ihn habe. Es ist dann ein Brief A. W. Schlegels vorhanden, der die Übersendung der Volksmärchen beantwortet und mit der Rezension A. W. Schlegels im Athenäum interessante Vergleichspunkte bietet, die als erstes bedeutendes Wort über Tiecks Poesien bekannt geworden ist. Viel entschiedener als in dem Athenäum spricht er es in diesem Briefe aus, wie die Form der Prosa Tiecks aus dem Studium Goethes, seines Wilhelm Meister und des Märchens, in einem verwandten Geiste entsprungen sei. Das ungoethesche Experiment, in altem Kostüm und alter Sprache unsere moderne Empfindungsweise darzustellen, wie in der schönen Magelone geschieht, mißfällt ihm; dagegen stellt er den blonden Eckbert, der zu allererst von Tiecks Werken den Spuren der Goetheschen Prosa folgt, am höchsten. Die Vollendung der erzählenden Prosa und des Liedes und eine poetische Richtung, in welcher die Phantasie frei, ohne moralische Nebengedanken herrscht, das ist, was ihn an Tieck anzieht. Wie er dagegen in dem, worin Tieck von Goethes Bahn ausweicht, ihm ganz fremd und ablehnend gegenübersteht, zeigt die Art, in der er Tiecks Märchenstoffe entschuldigt und kaum äußerlich zu entschuldigen weiß.
So lose waren die ersten Fäden geflochten. Nicht nur daß man manche Divergenz der Richtung scharf empfand; es bestand auch keine herzliche persönliche Beziehung. Was zusammenhielt, waren die Vorteile eines Schutz- und Trutzbündnisses gegen die abgelebten, aber unsterblichen Richtungen der Nicolai, Huber, Schütz. Hier bot das Athenäum einen Vereinigungspunkt. Besonders August Wilhelm Schlegel, der den lebhaftesten Sinn für Ausfälle, Bündnisse, Kooperationen, kurz für literarische Strategik besaß, war unermüdlich in neuen Erfindungen, mehr zum Ärger der Gegner als zum Nutzen der Freunde. Er empfand an diesen Operationen ein ganz uneigennütziges Vergnügen.
Aus diesen leichteren Beziehungen erwuchs nun seit dem Sommer 1799 das innigste Zusammenleben. Es waren die letzten Monate von Fichtes Anwesenheit in Jena. Noch wirkte neben ihm Schelling im glücklichsten Einverständnisse: er gedachte die Wissenschaftslehre durch die Naturphilosophie zu ergänzen. Zu der gärenden Bewegung des philosophischen Geistes kamen die Berührungen mit den Dichtern von Weimar; mehrmals im Jahre suchte hier auf dem stillen Schlosse Goethe eine arbeitsame Einsamkeit, fern vom Hofleben. So war Jena wie die zweite Hauptstadt des deutschen
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Geistes; ganz besonders geeignet demnach für das übermütige Treiben der neuen Schule, die hier wie auf einem neutralen Boden, ohne sich mit der Weimarer Gesellschaft Goethes zu berühren, mit diesem ihrem Haupte, dem »Statthalter der Poesie auf Erden« sich begegnete.
Bevor Tieck sich neben A. W. Schlegel und Schelling hier dauernd niederließ, kam er im Sommer von Giebichenstein herüber, wo er bei Reichardt ein paar Wochen lebte. Er hatte im Jahre zuvor A. W. Schlegel in Berlin kennengelernt; nun wollte er nur auf einem flüchtigen Besuch bei ihm einen Blick in diese Welt tun. Friedrich Schlegel hatte ihm ein Jahr vorher gemeldet, wie ihm die Volksmärchen zwei neue Freunde gewonnen hätten, Novalis und Schelling. Jetzt traten ihm beide entgegen. Für Novalis und Tieck war das Zusammentreffen entscheidend. Hatte Friedrich Schlegel sich mit den Ideen von Novalis berührt, so traf diese Begegnung mit Tieck die innerste Tiefe seines dichterischen Gemüts. Gleich am ersten Abend schlossen sie sich gegeneinander auf; beim Klange der Gläser tranken sie Brüderschaft. Mitternacht war herangekommen, die Freunde traten hinaus in die Sommernacht. Wieder ruhte der Vollmond, des Dichters alter Freund seit den Tagen der Kindheit, magisch über den Höhen um Jena. Sie erstiegen den benachbarten Hausberg und wanderten in die Sommernacht hinein. In solchen Stunden muß in ihnen beiden der Geist der romantischen Poesie, wie er ihnen von da ab gemeinsam vor der Seele stand, sich zu vollem Bewußtsein erhoben haben. Als man bei dem nahenden Morgen Abschied nahm, sagte Tieck: »Jetzt werde ich den getreuen Eckart vollenden.« Noch an demselben Tage teilte er ihn den Freunden mit. Ich glaube, daß einige Zeilen des Phantasus, welche viele Jahre danach geschrieben sind, dem Andenken an diesen Abend gewidmet sind. In der ruhigen Einsamkeit des Gartens, da ein glänzender Sternenhimmel über der Landschaft steht, lustwandeln die Freunde und Ernst sagt: »Diese heilige ernste Ruhe weckt im Herzen alte entschlafene Schmerzen, die zu stillen Freuden werden, und so schaut mich jetzt groß und milde mit seinem menschlichen Blick der edle Novalis an, und erinnert mich jener Nacht, als ich nach einem fröhlichen Feste in schöner Gegend mit ihm durch Berge schweifte, und wir, keine so nahe Trennung ahnend, von der Natur und ihrer Schönheit und dem Göttlichen der Freundschaft sprachen. Vielleicht da ich so innig seiner gedenke, umfängt mich sein Herz so liebend wie dieser glühende Sternenhimmel.«
Wie diese Freundschaft in Novalis Epoche machte, davon ist ein Brief an Tieck vom 6. August 1799 ein merkwürdiges Dokument. »Deine Bekanntschaft hebt ein neues Buch in meinem Leben an.
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Du scheinst mir jeden in der Blüte zu berühren und verwandt zu sein. Du hast auf mich einen tiefen, reizenden Eindruck gemacht. Noch hat mich keiner so leise und doch so überall angeregt wie Du. Jedes Wort von Dir versteh ich ganz. Nirgend stoß ich auch nur von weitem an. Nichts Menschliches ist Dir fremd. Du nimmst an allem teil und breitest Dich leicht wie ein Duft gleich über alle Gegenstände und hängst am liebsten doch an Blumen.« Das war mehr als die bisherigen Jenaer Verhältnisse der Romantiker. Hier begegneten sich, wie in der Freundschaft zwischen Friedrich Schlegel und Schleiermacher, zwei wahrhaft wahlverwandte Naturen.
Hardenberg erwiderte den Besuch in Giebichenstein. Auf der Rückreise verweilte dann Tieck ein paar Tage, auf Hardenbergs Einladung, in Weißenfels. Auch ihn ergriff der stille, praktisch fromme, innerlichst vornehme Geist in diesem Hause, der über den Freund eine solche Macht gewonnen hatte. Der alte Hardenberg stand wie ein Patriarch in der Mitte seiner Familie. Tieck fand leicht in der Neigung für die alte Zeit einen Berührungspunkt. Es charakterisiert den alten Herrn sehr hübsch, wie ihn Tieck einst im Nebenzimmer auf eine nicht eben glimpfliche Weise schelten und zürnen hörte. »Was ist vorgefallen?« fragte er besorgt einen eintretenden Bedienten. »Nichts«, erwiderte dieser trocken, »der Herr hält Religionsstunde.« Die Trennung Tiecks von dem Freunde dauerte nicht lange. Im Oktober siedelte er mit seiner Frau und der eben geborenen Tochter Dorothea nach Jena über und blieb da bis Ende Juli 1800.
Auch Friedrich Schlegel hatte sich um diese Zeit mit den Freunden vereinigt. Im Oktober folgte ihm dann Dorothea. Er brachte die Reden über die Religion mit, die eben damals anonym erschienen waren und sicher an dem Kreise unbemerkt vorübergegangen wären, hätte nicht Friedrich Schlegel so begeistert auf sie aufmerksam gemacht. Sie fanden Hardenberg, beinahe zurückgezogen von den übrigen, mit Tieck und dessen Frau verbunden. »Er ist« – schreibt Dorothea – »so in Tieck, mit Tieck, für Tieck, daß er für nichts anderes Raum findet. Er sieht wie ein Geisterseher aus, und hat sein ganz eigenes Wesen für sich allein, das kann man nicht leugnen.« Aber die Reden über die Religion ergriffen ihn gewaltig. Wie Tieck seine Poesie wieder erweckte, so brachten sie seine religiösen Ideen in Gärung. Seine Begeisterung bewegte den ganzen Kreis in enthusiastischer Zustimmung und heftigem Gegensatz. Die scharfe Dorothea bemerkte, Tieck treibe die Religion wie Schiller das Schicksal: Hardenberg glaube, Tieck sei ganz und gar seiner Meinung, sie wolle aber wetten, sie verstünden sich selbst nicht und einander nicht.
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Wie noch vor den zusammenhängenden und geschlossenen Wirkungen einer bedeutenden Schrift erste Eindrücke und Anregungen vorauszueilen pflegen: so traten aus dieser Gärung zunächst ein Aufsatz von Novalis über das Christentum und die Ideen Friedrich Schlegels hervor. Schelling setzte sich in einem merkwürdigen Gedichte, dem epikurischen Glaubensbekenntnisse von Heinz Widerporst, den Reden über die Religion und der Begeisterung der Freunde, welche sie hervorgerufen hatten, sehr derb entgegen. Das Athenäum sollte das nun alles friedlich nebeneinander sehen. August Wilhelm erhob Bedenken, wurde aber überstimmt. Die Sache, welche für die äußere Stellung der Schule nicht ohne Bedeutung war, bewegte die Freunde lebhaft. August Wilhelm provozierte auf Goethe. »Dieser« – schreibt er an Schleiermacher – »ist denn sehr in die Sache eingegangen und hat mit umständlicher und gründlicher Entwickelung gegen die Aufnahme und für mich entschieden. Ich wollte, daß Sie die schönen Reden, die er mir bei diesen und anderen Gelegenheiten gehalten, mit hätten anhören können, es würde Sie entzückt haben.« Auch Schleiermacher war gegen den Druck gewesen.
Hardenbergs Fragment trägt die Bezeichnung: die Christenheit oder Europa. Der Gesichtspunkt einer Einheit aller europäischen Staaten, durch das Christentum getragen, spricht sich darin aus. Ich wüßte nicht, daß er vordem mit solcher Klarheit gefaßt worden wäre. Als ein Grundcharakter jener Epoche, in welcher das christliche Europa gegen den eindringenden Islam kämpfte, hat ihn Ranke durchgeführt. Die ganze Geschichtsschreibung der Romantik beruhte aber darauf, diesen vorübergehenden Zustand als den einzig möglichen hinzustellen, von dem Reformation, Rationalismus, Wissenschaften, weltliche Gesichtspunkte der Politik uns nur abgeführt hätten. Die gewaltige mit jedem Tage anwachsende, auf realen Grundlagen sich aufbauende Einheit der Interessen, welche die Zivilisation schafft, tritt hier zurück hinter einem erträumten Gottesfrieden unter dem Schutze religiöser Überzeugung, welche weder je bestand noch der durchschnittlichen menschlichen Natur nach auch nur einen Tag auf Bestand rechnen könnte. Es ist das die unhistorische Anschauung, welche der heiligen Allianz ein christliches Gewand lieh. Sie tritt in diesem flüchtigen Entwurf von Novalis zuerst in unserer protestantischen Literatur auf.
Er sieht das Christentum in voller Macht und Herrlichkeit wirksam im Mittelalter. Es ist charakteristisch, wie er es auffaßt. Ein großes Interesse verband, unter einem Oberhaupte, dies weite geistliche Reich; seine Verwaltung in den Händen eines mit voller Unabhängigkeit, höchster Bildung, großer Welterfahrung begab-
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ten Standes. Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit; sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen Menschen; in den geheimnisvollen Kirchen, mit Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt, von heiliger Musik belebt, wohnte eine erhabene Heiterkeit. Es ist die Religion einer pantheistischen Verklärung der Welt, die er hier, nur in Bildern und Geschichten poetisch ausgeprägt, wiedererkennt.
Rom, der Ort, an welchem alle weisen und ehrwürdigen Menschen aus Europa sich sammelten, war einsichtig und in seinem Rechte, indem es freche Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinnes hinderte, unzeitige gefährliche Entdeckungen ablehnte, wie diese, daß die Erde ein unbedeutender Wandelstern sei.
Es wird nicht deutlich, wie und zu welcher Zeit nun ein so glücklicher Zustand sich ändern konnte. Lange vor der Insurrektion, welche im Protestantismus ausbrach, soll er stillschweigend verlorengegangen sein. Schon die Abschaffung der Priesterehe soll nur eine kluge Maßregel gewesen sein, die zerrüttete Verfassung der Kirche noch zusammenzuhalten. Da scheint denn freilich, als ob jener vollkommene Zustand außer aller Zeit gelegen hätte. Und aus welchen Ursachen entsprang die Änderung? Die Menschheit war für dies Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Und doch auf der anderen Seite, als die Bildung voranschritt, zeigte gerade sie wenigstens die temporelle Schädlichkeit der Kultur auf einer gewissen Stufe für den Sinn des Unsichtbaren. So geschah, daß der Protestantismus frevelnd die Einheit der Kirche zerriß; ein falsches landesherrliches Kirchentum gründete; den rohen abstrakten Entwurf der Religion in den biblischen Büchern kanonisierte; den einzelnen mächtigen Staaten Raum ließ, sich des vakanten Universalstuhls zu bemächtigen; endlich aber von der genialen Klugheit des Jesuitenordens zurückgedrängt wurde. Die Gelehrten und die Geistlichkeit stehen immer in einer geheimen Opposition; denn sie streiten um eine Stelle. Das Ende schien gekommen, als Gott durch die Aufklärung zum müßigen Zuschauer des großen Schauspiels einer in sich ablaufenden mechanischen Welt gemacht wurde.
Aber nichts ist vergänglich, was einmal die Geschichte ergreift. Es geht aus seinen Verwandlungen erneut in immer reicheren Gestalten hervor. Wir stehen vor einer neuen Weltinspiration. Die Wissenschaft hat sie vorbereitet, indem sie die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunst, die Notwendigkeit des Wissens, die Achtung des Weltlichen und die Allgegenwart des wahrhaft Geschichtlichen zur Anerkennung brachte. »Also kommt auch, ihr Philanthropen und Enzyklopädisten, in die friedenstif-
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tende Loge und empfangt den Bruderkuß, streift das graue Netz ab und schaut mit junger Liebe die Wunderherrlichkeit der Natur, der Geschichte und der Menschheit an.« »Das Christentum ist dreifache Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlertum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt, welche ihr wollt, wählt alle drei; es ist gleichviel.« Aus dem Schoße eines ehrwürdigen europäischen Konziliums wird die Christenheit aufstehen.
Weder Lob noch Tadel noch Erklärung ist hier möglich – nicht einmal Beantwortung der Frage, was hier Paradoxie und was innere Überzeugung war, ohne daß wir Novalis' Stellung in der philosophischen und poetischen Bewegung jener Tage überblicken. Aber dahin führt uns nun ohnehin der Gang unserer Erzählung.
Die geistlichen Gedichte Hardenbergs, die Ideen und die Rede über die Mythologie von Friedrich Schlegel, sogar katholisierende Anwandlungen seines kritisch klaren Bruders, die christliche Wendung in Tiecks Gedichten: all das entsprang in dieser Gärung in kürzester Frist. Wie ein Nüchterner unter Träumenden erscheint in ihr der Mann, welcher dieser religiösen Begeisterung den ersten stärksten Impuls gegeben hatte, und in dessen tiefernster Seele diese wie andere Richtungen seiner Generation einen gesammelten, energischen, männlich zusammengefaßten Ausdruck fand. Schleiermacher setzte Hardenbergs Auffassung die kühle historische Wahrheit entgegen, daß das Papsttum das Verderben des Katholizismus sei. Novalis selber stand an der abschließenden Wendung seines Geistes. Was er in momentaner Bewegung, unter dem Einflusse, den neue überraschende Wendungen des geistigen Lebens auch auf weniger der Paradoxie zuneigende Naturen zu erlangen pflegen, mit dem Übermut einer radikalen Opposition gegen alle herrschenden Ansichten niedergeschrieben hatte, das trat nun in den Zusammenhang seiner Ideen zurück, welcher es begrenzte und in die Region poetischen Traumlebens erhob. In diesem Herbst 1799 begann er den Ofterdingen. Seine Weltansicht ist für uns gewissermaßen in einem doppelten Ausdruck vorhanden; sie erscheint, ihrer Natur nach, unter zwei Gestalten: als ein Zusammenhang philosophischer Ideen und als eine dichterische Anschauung der Welt. Es ist für den Geist seiner Zeit charakteristisch, daß, Schillers größerer, viel gewaltigerer Entwickelung entsprechend, erst nachdem jene philosophische Gestalt einen gewissen Abschluß erlangt hatte, die dichterische hervortrat.
Denn offenbar ist das Philosophische, was wir von Novalis besitzen, im Sommer 1799 im wesentlichen abgeschlossen. »Unter
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Spekulanten war ich ganz Spekulant geworden« schreibt er an Tieck etwas später. Nun hat sich die Poesie erhoben. Und die kurzen anderthalb Jahre hindurch, welche ihm noch vergönnt waren, die längste Zeit darunter in solchen Zuständen, daß er Lesen, Denken, Schreiben, alles sich versagen mußte, herrschte sie unumschränkt. Von seinen poetischen Plänen allein waren die hoffnungsvollen Phantasien seiner letzten Wochen erfüllt. Jene Fragmente demnach, welche sich in seinem Nachlasse vorfanden, gehören vornehmlich der nun dargestellten Lebensepoche an. Von ihnen ist zunächst zu reden; aber nicht, wie bisher geschah, mit verzweifelten Aussprüchen über ihre Paradoxie, auch nicht in kahlen Aufzählungen.
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