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Wilhelm Dilthey: Novalis. In: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 141965. S. 187-241, hier S. 190-200.

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Friedrich von Hardenberg ist im Jahre 1772 geboren, in einem Jahre mit Friedrich Schlegel; beide ein Jahr vor Wackenroder und Tieck, zwei Jahre nach Hölderlin. Was ihn von diesen verwandten Naturen gleich von Anfang unterschied, war, daß seine Verhältnisse ihn an die Welt knüpften und ihn von jener rein literarischen Existenz zurückhielten, welche gerade damals und in diesen Kreisen sich in weiter Ausdehnung auszubreiten begann. Seine Lebensverhältnisse sind wie ein Nachklang der Goetheschen, nur in einer einfacheren und stilleren Sphäre wiederkehrend. Dahin wirkte schon seine zarte körperliche Organisation. Sie hielt ihn zunächst dergestalt zurück, daß sein Geist erst mit seinem neunten Jahre wie aus einem Schlummer zu erwachen schien. Sie ließ ihn dann, als er sich seiner selbst und seiner Umgebung bewußt zu werden begann, kampflos in dem Geiste einer heiteren Herrnhutischen Frömmigkeit, der im Hause herrschte, sich ruhig fühlen. So wuchs er in dem anmutigen Weißenfels auf, wo sein Vater im Oberbergkollegium saß. Ein Jahr brachte er dann bei einem Oheim, dem Landkomtur von Hardenberg zu, auf einem Gute im Braunschweigischen, weit über sein Alter hinaus in Verkehr mit bedeutenden Männern. Bilder eines festen, glücklichen, bedeutenden Lebens umgaben ihn überall. Es war selbstverständlich, nach den patriarchalischen Gewohnheiten dieser in Thüringen sitzenden Beamtenaristokratie, daß er sich irgendeinem Fache der Verwaltung widmete, mit aller Muße für seine persönliche Ausbildung, mit der ruhigen Aussicht auf eine seinen Talenten und seinen Familienverbindungen entsprechende Stellung, wie das den Beamtenverhältnissen jener Tage einen solchen Reiz gibt, in denen man noch nicht an der unvermeidlichen Leiter bureaukratischer Karriere nebeneinander emporkletterte.

Mit so klarer, geschlossener Aussicht auf das zukünftige Leben trat er 1790, achtzehn Jahre alt, in die leidenschaftliche Gärung von Jena, das ein paar Meilen von seinem stillen Weißenfels ablag. Er sah sich zum erstenmal ohne Hofmeister und Führer. Ein paar Briefe an Schiller und Reinhold sind vorhanden, die von seiner damaligen heiteren und unbefangenen Existenz den lebhaftesten

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Begriff geben. Er erfaßte die Philosophie Kants, wie sie Reinhold lehrte, die Dichtung Schillers voller Begeisterung. Die geistigen Vorzüge dieser Kreise im Gegensatze gegen das provinzielle Beamtentum, in welchem er bis dahin gelebt, ergriffen seinen lebhaften Geist. »Was die Geburt mir versagte, hat das Glück mir gegeben«, schreibt er einmal später. »Ich vermisse in meinem Geburtskreise, was ich in einer fremden Mitte beisammen sehe. Ich fühle, daß es nähere Verwandtschaften gibt als die das Blut knüpft.« Der Gedanke regte sich in ihm wie in so vielen Jünglingen, inmitten dieser begeisterten Bewegung, sein ganzes Leben auf die Wissenschaften und die Poesie zu gründen. Er sprach mit Schiller darüber. Soweit wir sehen können, hat Schiller niemanden zu einer schriftstellerischen Existenz ermutigt, der ihn um Rat anging. Ein unbändiger Drang hatte ihn selber wie andere Männer von großem und leidenschaftlichem Naturell in Stürme und auf unsichere Wellen getrieben. Aber mitten in seiner Jugendgärung hatte er schon mit ungemeinem Weltverstande die Bedürfnisse eines ruhigen, geordneten Daseins erwogen. Dieser Weltverstand erscheint jetzt, ganz im Gegensatz gegen die Gestalten seiner inneren Welt, in seinen Briefen als ruhige und beinahe scharfe Kälte. Er bestimmte Novalis, seinem Wunsche zu entsagen. »Sie machten mich auf den mehr als alltäglichen Zweck aufmerksam, den ein gesunder Kopf sich hier (in einem bestimmten zukünftigen Beruf) wählen könne und müsse, und gaben mir damit den letzten entscheidenden Stoß, der wenigstens meinen Willen sogleich fest bestimmte und meiner herumirrenden Tätigkeit eine zu allen meinen Verhältnissen leicht bezogene und passende Richtung gab.« Es scheint kaum ein ernsthafter Kampf gewesen zu sein, denn sein fügsamer, allen Kontrasten und Kämpfen abgeneigter Geist erkannte sehr leicht, wie ein Ruf des Schicksals aus allen seinen Verhältnissen unverkennbar deutlich zu ihm spreche. Indes scheint er diese zwei Jenaer Jahre in jener begeisterten, beinahe trunkenen Dämmerung der Seele durchlebt zu haben, welche uns später wie ein Traum erscheint, und in der doch allein die fruchtbaren Elemente eines idealen Lebensgehaltes sich bilden. Schiller, die Philosophen Reinhold und Schmid beherrschten ihn ganz. Dabei ist der Unterschied des Tones höchst bemerkenswert, in welchem etwa Hölderlin und in welchem unser Hardenberg mit Schiller verkehrt. Gleich von vornherein geschieht es auf einem unbefangenen Fuße. Er tritt auf und spricht, wie einer der schon festen Boden unter den Füßen fühlt. Wie glücklich ist doch zu preisen, wessen Leben auf dem begrenzten Schauplatz seiner Heimat verläuft! Überall ergibt sich ihm von selbst der natürlichste Standpunkt den Menschen gegenüber. Die Qual von Verhält-

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nissen, die rein auf intellektuelle Schätzung gegründet sind, die Qual all der Schwankungen des Selbstgefühls, welche sie aufrufen, ist ihm erspart. Und ohne viel Suchen und Entbehren umfangen ihn die natürlichsten Verhältnisse: er wächst ihnen mit einem vorausahnenden Behagen entgegen.

In solcher ruhigen Erwartung begab sich nun Hardenberg 1791 nach Leipzig, mit dem Entschluß, dort nach einer gänzlich veränderten Lebensordnung zu leben. Da und in Wittenberg beschäftigten ihn folgerichtige juristische, mathematische und chemische Studien, wie er ihrer für seine künftige Stellung in der Verwaltung bedurfte. In Leipzig begegnete ihm auch zuerst Friedrich Schlegel, und zwischen Hardenberg und dem durch seinen ungestümen Lebensdrang in Irrungen aller Art Verstrickten entstand die vertrauteste Jugendfreundschaft.

In Tennstädt, das ein paar Meilen westlich von Weißenfels, mitteninne zwischen Thüringer Wald und Harz, in anmutiger Gegend liegt, trat er dann in die kursächsische Verwaltung ein. Nach dem Wunsche des Vaters ward er dort von dem Freunde desselben, dem Kreisamtmann Just, in die Verwaltung eingeführt. Wir verdanken diesem Manne den Abriß einer Biographie Hardenbergs, in welchem sein eigener herzlicher und kräftiger Charakter auf das einfachste und schönste heraustritt. Es ist bemerkenswert, wie er, man möchte sagen mit Verehrung, von Hardenbergs Talent für die Geschäfte spricht. Auch hier tritt die ruhige Nachhaltigkeit desselben hervor; er scheut nicht, eine Arbeit zwei-, dreimal umzugestalten, ganze Seiten von gleichbedeutenden oder abweichenden Wörtern aufzuzeichnen, um Abwechslung und Präzision des Ausdrucks auch für seine Geschäftsaufsätze in die Gewalt zu bekommen. Und mitten in Geschäften begleiteten ihn dann wieder die alten wissenschaftlichen Lieblingsneigungen. So lebte er ruhig der Zukunft entgegen. Er fand später, sein Verstand habe sich damals nach und nach immer unumschränkter ausgedehnt und das Herz aus seinem Besitze verdrängt. Da geschah, daß eine zufällige Begegnung auf einer Geschäftsreise mit dem alten Freunde das alles plötzlich umgestaltete und eine Empfindung in ihm wachrief, die danach – man könnte beinahe sagen – der Inhalt seines ganzen Lebens wurde.

Im Frühjahr 1795 sah er auf dem Tennstädt benachbarten Gute Grüningen Sophie von Kühn. Sie hatte dreizehn Jahre beschlossen, er selber zählte dreiundzwanzig: ihr erster Anblick entschied für sein ganzes Leben. »Alle diejenigen« – erzählt Tieck – »welche diese wunderbare Geliebte unseres Freundes gekannt haben, kommen darin überein, daß es keine Beschreibung ausdrücken könne, in welcher Grazie und himmlischen Anmut sich dieses überirdische

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Wesen bewegt und welche Schönheit sie umglänzt, welche Rührung und Majestät sie umkleidet habe.« Es ist, als ob auch Tieck sie schilderte, wie sie in der Poesie seines Freundes lebt – Mathilde, Cyane, ja die ihm beinahe in der Gestalt der Himmelskönigin vorschwebte. An diesem Punkte sind wir imstande, in das innerste Verfahren von Hardenbergs dichterischer Phantasie zu blicken. Wir besitzen eine Charakteristik Sophiens von Novalis selber, und zwar aus der Zeit ihrer Krankheit; also so wie ihr Bild überhaupt zur Zeit ihres Lebens ihm vor der Seele stand. Diese Charakteristik zeigt die interessanteste, anmutigste Natur, die man sich denken kann – aber sie ist voll von pikanten, beinahe kapriziösen Zügen. Sie ist mit höchster Aufrichtigkeit, für seine eigene intimste Betrachtung gemacht. Die abgerissenen Worte geben ein unübertrefflich anschauliches Bild. »Ihre Frühreife. Sie wünscht allen zu gefallen. Ihr Gehorsam und ihre Furcht vor dem Vater. Ihre Dezenz und doch ihre unschuldige Treuherzigkeit. Ihr Steifsinn und ihre Schmiegsamkeit gegen Leute, die sie einmal schätzt, oder die sie fürchtet. Artigkeit gegen Fremde. Wohltätigkeit. Hang zum kindischen Spiel. Anhänglichkeit an Weiber. Geschäftigkeit im Hause. Liebe zu ihren Geschwistern. Musikalisches Gehör. Hang zu weiblichen Arbeiten. Sie will nichts sein. Sie ist etwas. Sie macht nicht viel aus Poesie. Offenheit. Sie scheint noch nicht zu eigentlichem Reflektieren gekommen zu sein. Kam ich doch auch erst in einer gewissen Periode dazu. Ihr Betragen gegen mich. Ihr Schreck für der Ehe. Ihr Tabaksrauchen. Ihre Anhänglichkeit an die Mutter, als Kind. Ihre Dreistigkeit gegen den Vater. Ihre Gespensterfurcht. Ihre Wirtschaftlichkeit. Talent nachzumachen. Sie ist mäßig – wohltätig. Sie ist irritabel – sensibel. Ihr Hang gebildet zu sein. Ihr Abscheu für dem Vexieren. Ihre Achtsamkeit auf fremde Urteile. Ihr Beobachtungsgeist. Kinderliebe. Ordnungsgeist. Herrschsucht. Ihre Sorgfalt und Passion für das Schickliche. Sie will haben, daß ich überall gefalle. Sie hats übelgenommen, daß ich mich zu früh an die Eltern gewandt habe, und es mir zu bald und zu allgemein merken lassen. Sie will sich nicht durch meine Liebe genieren lassen. Meine Liebe drückt sie oft. Sie ist kalt durchgehends. Ungeheure Verstellungsgabe, Verbergungsgabe der Weiber überhaupt. Sie glaubt an kein künftiges Leben, aber an die Seelenwanderung. Schlegel interessiert sie. Sie kann zu große Aufmerksamkeit nicht leiden und nimmt doch Vernachlässigung übel. Sie fürchtet sich so für Spinnen und Mäusen. Sie will mich immer vergnügt. Die Wunde soll ich nicht sehn. Sie läßt sich nicht duzen. Sie denkt mehr über andre, als über sich nach.« Man kann den anmutigsten Kapricekopf nicht anschaulicher sehen. Aber nachdem sie ihm genommen war, wuchsen diese halb kindlichen, ungleich-

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mäßigen Züge in seiner Seele gewissermaßen aus. Der Tod vollzog hier, was in Dantes Phantasie schon die Entfernung vorbereitete. Sie wuchsen in seiner Seele aus zur vollen Idealität einer reifen ausgeglichenen Natur. Vergleicht man nun aber die Charakteristik Mathildens mit dieser Schilderung: so sieht man wohl, wie seiner Phantasie eine energische konkrete Gestaltungskraft abging. Alles ist nur in eine grenzenlose Innigkeit aufgelöst. Schleiermacher macht aus dieser Charakteristik Mathildens einen höchst scharfsinnigen Schluß, so scharfsinnig, daß man ihn ohne diese Mitteilung, die er noch nicht besaß, für ganz evident halten würde. »Ich glaube nicht, daß er seine Geliebte richtig gewählt oder vielmehr gefunden hatte, ich überzeuge mich fast, sie würde ihm zu wenig gewesen sein, wenn sie ihm geblieben wäre. Meinen Sie nicht auch, daß man dies aus seiner Mathilde schließen kann? Scheint sie Ihnen nicht im Vergleich mit der Art, wie alles andere ausgestattet ist, etwas zu dürftig für den Geist? Und würde er nicht eine andere haben schildern müssen, wenn ihm sein Gemüt mit dem Bilde einer reicheren Weiblichkeit wäre erfüllt gewesen? Damit tröste ich mich wenigstens für ihn.« Sein Tadel trifft doch nur die fortbildende Phantasie Hardenbergs, nicht den Gegenstand derselben.

Dieser Frühling und Sommer von 1795, welchen er noch in Tennstädt verlebte, war wie die Blütezeit seines Lebens. Ein Blatt von seiner Hand aus dieser Zeit gibt ein anschauliches Bild, wie er es so zwischen Tennstädt und Grüningen hin und her trieb, welche zwei Stunden voneinander lagen. In der Morgenstunde war er hinübergeritten, durch Feld und Gewässer, das Grüninger Schloß vor Augen. Im Dorfe, dicht am Torweg, der in die Ökonomie droben führt, hält er und fragt nach jemandem, der einen Brief aufs Schloß trüge. Es macht ihm ein heimliches Vergnügen, daß die Leute in ihm einen Verehrer der Damen auf dem Schlosse erraten. »Ich schlich mich langsam zum Dorfe hinaus, jenseits des Wassers sah ich das gelbe Schloß sehnsuchtsvoll an – und trabte von dannen. Alle zehn Minuten hielt ich an und sah mich um. Die Gegend ist mir so lebendig geworden, ich wollte sie im Kopfe zeichnen.« In seinen einfachen Worten liegt etwas von dem Glanze, der auf den Weg fällt, welchen der Beglückte in Morgenfrühe und Dämmerung und in hellen Nächten in solchen Stimmungen hin und wieder geht. Wie der Herbst kam, erhielt er das Jawort. Diese Metamorphose vom Verehrer zum erklärten Bräutigam scheint Sophien nicht ganz behaglich gewesen zu sein. Ihn aber drängte es voran und so kamen nun seine Wünsche ganz mit denen seines Vaters in Einklang. Er wollte zunächst in den Geschäften der kurfürstlichen Salinen arbeiten. Ehe er Tennstädt verließ, ließ er sich

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daher in dem benachbarten Langensalza von Wiegleb in der Halurgie unterrichten; es waren nur zehn bis zwölf Tage, in denen er den ganzen Unterricht gefaßt hatte, und ein so kompetenter Richter als Wiegleb nannte später Hardenbergs Namen nie anders als mit Ehrerbietung. Im Februar 1796 trat er dann unter der Leitung seines Vaters sein Noviziat in den kurfürstlichen Salinen zu Weißenfels an. Das erwünschteste Glück schien ihm ruhig entgegenzuwachsen.

Da kam die Nachricht, im Sommer 1796, daß Sophie in Jena sei und sich dort habe operieren lassen. Es war ihr Wille gewesen, daß er die Krankheit – sie litt an einem gefährlichen Lebergeschwür – und die Operation erst erfahren sollte, wenn sie vorüber seien. Er eilte nach Jena. Auch seine Eltern und seine beiden Brüder waren um die Leidende, an welcher alle unaus[s]prechlich hingen. Eine zweite Operation ward nötig; sie trug alles mit unbeschreiblicher Geduld. Ungeheilt kehrte sie nach dem geliebten Grüningen zurück. Hardenberg suchte vergebens Trost in eigenen medizinischen Studien; sein Wissen sagte ihm nun, wie es mit ihr stand. Aber ihm war, als könne er sie nicht verlieren: wenn er nur wolle, könne der Mensch auch dem Tode trotzen. Sie starb am 19. März 1797. Niemand wagte dem in Weißenfels Abwesenden die Nachricht mitzuteilen; endlich übernahm es sein Bruder. Er verbrachte seine Tage einsam, in sein Zimmer verschlossen. Dann reiste er nach Tennstädt, ihrem Grabe näher zu sein. Zwei Jahre war sie sein stündlicher Gedanke gewesen. Sie allein hatte ihn an das Leben, an das Land, an seine Beschäftigungen gefesselt. Es schien ihm, als habe er sich selbst fast nicht mehr. »Es ist Abend um mich geworden, während ich noch in die Morgenröte hineinsah.«

Es wird immer wieder das höchste Interesse des mit dem Studium des menschlichen Geistes Beschäftigten auf sich ziehen, wie aus den originalen Impulsen der menschlichen Natur unsere Denkart von den höchsten Dingen sich bildet. Gewaltige Erschütterungen des ganzen Bestandes von Glück und Hoffnung eines Menschen, dergleichen hier eine vorlag, nehmen eine große Stelle in dem Hervortreten und den Umwandlungen religiöser Stimmungen ein. Nicht daß dann in solchen Lagen immer ganz neue Überzeugungen entständen. Indem das Gemüt in ihnen alle Bewegungen, die der Tag mit sich bringt, weit unter sich fühlt, indem es sich durch seinen Schmerz wie in eine absolute Einsamkeit versetzt fühlt, hinausstarrend in eine grenzenlose Öde, sieht es sich nunmehr ganz allein sich selbst gegenüber und in den wesentlichen Bestimmtheiten seines Daseins; die ewigen Bezüge seiner Existenz treten aus diesem Dunkel. So geschah das einer Natur wie Augustinus, welche Leidenschaften und Weltverhältnisse so gewaltsam

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umsponnen hatten. Das Schicksal gab nun seiner Seele Freiheit, Einsamkeit und das Bedürfnis, ihre Gestalt und ihre wesentlichen Verhältnisse gewahr zu werden. Aber in anderen Fällen bestimmt ein solches erschütterndes Geschick auch den Gehalt der religiösen Denkart. Wüßten wir nichts von einem Manne, als daß dies bei ihm geschah: so würde dies allein schon eine genügende Probe davon sein, daß ihm das Höchste, die Objektivität, versagt gewesen sei. Das Schicksal seines Lebens war für Novalis nicht wie für groß und rein intellektuell angelegte Naturen, nur ein Motiv zu umfassender Kontemplation. Es nahm ihn gefangen. Es gab seiner Denkart ihre Farbe; es bestimmte den Inhalt seiner religiösen Welt. Nur teilweise hat er sich später davon befreit. Sein Schicksal schnitt die Entscheidung darüber ab, ob er vermocht hätte, zu reinerer Objektivität, von diesen übermächtigen Eindrücken sich befreiend, sich zu erheben.

Auch hier liegen Stärke und Schwäche einer bedeutenden Natur an demselben Punkte. Er war in der Tat eine subjektive Natur, bestimmten Gemütseindrücken hingegeben bis zur Vergessenheit der Totalität der Erscheinungen, welche die Welt ausmachen. Das war es, was ihn wie Hölderlin von vornherein von Naturen wie Goethe oder Schiller schied. Aber er lebte, litt, gestaltete seine Seele als ein freier Mensch, welcher sich dem allen auf die natürlichste Weise hingab, mit voller Wahrheit der Empfindung auch in den sonderbarsten Gemütszuständen, er lebte nicht, um doch einen Stoff für seine Verse zu haben; er litt nicht, um davon für die rührenden Teile seiner Werke Nutzen zu ziehen; er gestaltete nicht seine Seele, um sie dann in Büchern vorlegen zu können. Daß ihm diese Gefahr immer fern blieb, unterscheidet ihn von den Jean Paul, A. W. Schlegel, selbst von Tieck. Und so kam es, daß die nun zu erzählenden Gemütszustände und religiösen Stimmungen in ihm wahrhaft und ursprünglich hervortraten, von den anderen Romantikern aber wie eine zu variierende und zu arrangierende Melodie behandelt wurden.

In der Zeit ihrer letzten Krankheit schrieb er, er lebe wie ein verzweifelter Spieler, dessen ganzes Wohl und Wehe davon abhänge, ob ein Blütenblatt in diese oder jene Welt falle. Dann ein paar Wochen nach dem Tode Sophiens an dieselbe Freundin: »Das Blütenblatt ist nun in die andere Welt hinüber geweht, der verzweifelte Spieler wirft die Karten aus der Hand und lächelt, wie aus einem Traum erwacht, dem letzten Ruf des Wächters entgegen und harrt des Morgenrots, das ihn zum frischen Leben in der wirklichen Welt ermuntert. Ich habe noch einiges zu vollenden – dann mag die Flamme der Liebe und Sehnsucht auflodern und dem geliebten Schatten die liebende Seele nachsenden. Sie umgibt

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mich unaufhörlich – alles was ich noch tue, tue ich in ihrem Namen. Sie war der Anfang – sie wird das Ende meines Lebens sein.« – Und noch aufrichtiger, tiefer sich aufschließend schrieb er an Just, den alten Freund in Tennstädt: »Wenn ich bisher in der Gegenwart und in der Hoffnung irdischen Glückes gelebt habe, so muß ich nunmehr ganz in der echten Zukunft und im Glauben an Gott und Unsterblichkeit leben. Es wird mir sehr schwer werden, mich ganz von dieser Welt zu trennen, die ich so mit Liebe studierte, die Rezidive werden manchen bangen Augenblick herbeiführen; aber ich weiß, daß eine Kraft im Menschen ist, die unter sorgsamer Pflege sich zu einer sonderbaren Energie entwickeln kann. Sie würden Mitleid mit mir haben, wenn ich Ihnen von den Widersprüchen der seitherigen Stunden erzählen wollte.« Am 14. April, kein Monat vorüber seit dem Tode Sophiens, starb auch sein Bruder Erasmus. Von dieser Zeit ab haben wir Tagebuchblätter von Hardenberg, die nach den Tagen seit Sophiens Tode zählen. Sie sind dunkel. Das erklärende Wort liegt in seiner sicheren Erwartung, daß er binnen einem Jahre sterben werde, und zwar nach seinem eigenen Entschluß, natürlichen Todes; allein durch die Gewalt der Sehnsucht, sich mit ihr zu vereinigen. Man kann nicht umhin, hierbei an den Abschluß der Wahlverwandtschaften, an Ottiliens in freiwilligem Entschluß herbeigeführtes Ende, an Eduards schmerzliche Kämpfe zu denken, welcher ihr auch hierin nachzufolgen gedachte und endlich nachfolgte. Ich weiß nicht, ob eine Mitteilung über diese Absicht von Novalis die Erfindung Goethes veranlaßte oder ob hier ungesucht Dichtung und Wirklichkeit sich begegnen. Denn auch darin wiederholt die Dichtung den Zug des Lebens, daß Naturell und der Instinkt des Lebens sich gegen diese Absicht beständig erhoben. Dieser Kampf zwischen einem im tiefsten Schmerze gefaßten Entschluß und der menschlichen Natur, welche vermöge einer glücklichen Mitgabe überall nach Ausgleichung der Zustände strebt, hat etwas Ergreifendes. »Den 18. April: Früh mancherlei Gedanken über sie und mich. Der Zielgedanke stand ziemlich fest.« »Den 19.: Früh mancherlei wegen des Entschlusses gewankt und geschwankt. Im ganzen der Tag heiter und ruhig.« »Den 21.: An Sophie hab' ich oft, aber nicht mit Innigkeit gedacht, an Erasmus kalt.« »Den 24.: Sophie wirds immer besser geben. Ich muß nur immer noch mehr in ihr leben. Nur in ihrem Angedenken ist mir wahrhaft wohl.« Am 26. wirft er sich vor, er sei fast lustig gewesen. Ein paar Tage darauf, er habe zu lebhaft gestritten während des Essens. Den nächsten Tag: er habe sehr lustig mit der Kreisamtmännin gesprochen, weshalb er abends seine Lieblingsbilder nur in der Ferne gesehen habe. Er schämt sich, jetzt

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zu sehr in der Stimmung des Alltagslebens zu sein. »O daß ich so wenig in der Höhe bleiben kann.« Hatte er dann wieder recht lebhaft ihr Bild vor sich gehabt, im Profil, neben sich auf dem Kanapee, im grünen Halstuch: dann fand er am folgende Tage doch eine sonderbare Furcht in sich vor dem gefährlich Krankwerden. »Ich muß mich noch immer nicht ganz an meinen Entschluß gewöhnen können. So fest er zu sein scheint, macht mich doch das zuweilen argwöhnisch, daß er in so unerreichbarer Ferne vor mir liegt, mir so fremd vorkommt.« So widerstrebte er, auf den Entschluß jener leidenschaftlichen Stunden sich stellend, der jetzt doch dem täglichen Leben gegenüber ihm selber fremd erschien, den heilenden Mächten des Lebens. Er flüchtete sich nach Grüningen, wo ihr Grab allen seinen Empfindungen unmittelbare Gewalt gab. Da hatte er denn aufblitzende Enthusiasmusmomente; er blies das Grab wie Staub vor sich hin; Jahrhunderte waren wie Augenblicke, ihre Nähe war fühlbar, er glaubte, sie solle nunmehr hervortreten. Wie aber nun selbst da diese Gemütsbewegungen nachlassen, überlegt er, daß er durch seinen Tod der Menschheit eine solche Treue bis in den Tod sichere; er mache ihr gleichsam eine solche Liebe möglich. Und nach Tennstädt zurückgekehrt, fühlt er nun bereits, daß sein Entschluß den Kampf mit der Vernunft nicht bestehen könne; dann, mit einer natürlichen Sophistik des Herzens, stellt er sich die Maxime fest: »Bei meinem Entschluß darf ich nur nicht zu vernünfteln anfangen: Jeder Vernunftgrund, jede Vorspiegelung des Herzens ist schon Zweifel, Schwanken und Untreue.« Und dann erscheinen doch Erwägungen, die offenbar ohnmächtig gegen dieses Vernünfteln ankämpfen. Die schönsten wissenschaftlichen und anderen Aussichten dürften ihn nicht auf der Welt zurückhalten; sein Tod solle ja nicht Notmittel, sondern echte Aufopferung sein. – So unentbehrlich als es scheine seien einander die Menschen doch nicht; seine Mutter genieße ihn wenig, auch sein Vater. Immer wieder sagt er sich, daß sein Entschluß unwandelbar sei, daß er ihn nicht dem Verlauf neuer Überlegungen aussetzen dürfe. So schließen diese Blätter mit dem Anfang des Juli 1797. Belehrender als unzählige Legenden zeigen sie, welche Kräfte unserer Seele einwohnen, sich von der Welt, ja dem Leben selber loszureißen, welche andere ihnen beständig entgegenwirken. Wer kann sagen, wie der Streit derselben geendigt hätte, wenn er in einer einsamen Klosterzelle gekämpft worden wäre!

So aber trat die Welt zwischen seinen Entschluß und seinen wahrhaften vom Tag und seinen Eindrücken bestimmten Zustand. Es ist der treffendste Ausdruck dieses psychologischen Zustandes, daß sein eigener Wille ihm ganz fremd, der Tag seiner Verwirklichung ganz außerhalb dieser rasch ablaufenden Tage zu liegen schien.

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Aus dem Entschluß zu sterben entwickelte sich ein Phantasieleben in der jenseitigen Welt. Mit Absicht, mit täglich sich wiederholender Anstrengung hatte er die Intensivität der Phantasiebilder des Jenseits in sich genährt, wie einst die Heiligen getan hatten. Wie die Absicht zu sterben zurücktrat, fand sich seine Empfindung in einer Verbindung mit der jenseitigen Welt, mit der abgeschiedenen Geliebten, welche an seinem Leben zehrte. Sein äußeres Ansehen begann sich um diese Zeit zu ändern. Als Friedrich Schlegel ihn im Sommer 1798 wiedersah, schrieb er: »er hat sich merklich geändert, sein Gesicht selbst ist länger geworden und windet sich gleichsam von dem Lager des Irdischen empor, wie die Braut zu Korinth. Dabei hat er ganz die Augen eines Geistersehers, die farblos geradeaus leuchten.« Einen Ausdruck dieser Leiden von einer unheimlichen Gewalt besitzen wir in den Hymnen an die Nacht. Tieck stellt dieselben, obwohl mit schwankenden Ausdrücken, in welchen er in solchen Fällen Meister ist, in den Herbst des Todesjahres von Sophie (1797); Just, der genauer zu sein pflegt, erst in das folgende Jahr. Welches auch der näher bestimmte Zeitpunkt ihrer Abfassung sei: sie konnten nur aus der Vertiefung in die Schmerzen dieser ersten Zeiten geschrieben sein, sie sind das wahrhafte Bild derselben. Sie haben etwas, das mehr Grauen erwecken könnte als die schrecklichste Geschichte. Wie ein langsam hingezogener, rätselhafter Klageton, der mitten in der Nacht vernommen wird, so scheint aus dem gepreßten Herzen des Einsamen dieser Ausdruck der Todessehnsucht zu brechen. Ganz fremdartig an uns herantretend, wie sein dunkler Entschluß vorher an seine Umgebungen; von einer grenzenlosen Traurigkeit.

Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Daseins reden Schriften aller Zeitalter. Hier liegt der Zug in dem Charakter der Welt, durch welchen dieselbe als schlechterdings rätselhaft erscheint. Daher die menschliche Phantasie unermüdlich ist, diesem Leben imaginäre Zustände gegenüberzustellen. Die Nacht der Bewußtlosigkeit, der Schoß des Weltalls, die affektlose Ruhe der Seligen: in all diesen Konzeptionen ergreift uns, daß die Leidenschaften, die Spannungen des Willens, das klare, scharfe Licht, welches uns die Grenze unserer Wünsche zeigt, hier endigen. Eine solche Konzeption sind diese Hymnen an die Nacht. Jenseits des Landes, wo das Licht in ewiger Unruhe hauset, dehnt sich zeitlos und raumlos die Herrschaft dieser Nacht aus, deren dämmernder Schatten nur, nicht ihre Wirklichkeit die Nacht und der Schlaf sind, welche allen Menschen gemein. Die irdische Flut bricht sich an dem Fuße des Hügels, und in dessen dunklem Schoße quillt diese kristallene Woge der unendlichen Nacht; gemeinem Sinne unvernehmlich; aber wer von ihr trank, ist ewig ihr eigen: da ist Vergessenheit aller Schmerzen,

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wundersame Einigung mit der Geliebten, unaussprechlich dämmernde Begeisterung. Ihm selber aber kam in der Zeit seiner unsäglichen Schmerzen, aus blauen Fernen, von den Höhen seiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschein, Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kam über ihn; er stand am Hügel der Geliebten, der Hügel ward zur Staubwolke und durch die Wolke sah er ihre verklärten Züge. »In ihren Augen ruhte die Ewigkeit; ich faßte ihre Hände.«

Krankhafte wissenschaftliche Phantasien beschäftigten ihn um dieselbe Zeit. Die Entdeckung des Galvanismus bewegte in diesen Jahren die wissenschaftliche Welt über ganz Europa hin. In dem Laboratorium des Bologneser Anatomen Galvani waren durch den sonderbarsten Zufall von der Welt abgehäutete Froschschenkel mit einer Elektrisiermaschine in Berührung gekommen: sofort hatten diese Glieder die lebhaftesten Zuckungen gezeigt, als ob sie Leben erhielten; Galvanis und Voltas Untersuchungen hatten seit dieser Begebenheit im Jahre 1790 die wissenschaftliche Welt leidenschaftlich bewegt. In Deutschland hatte sich Ritter mit tief eingreifenden Entdeckungen angeschlossen. Hardenberg war sicher damals schon mit ihm befreundet. Keine wissenschaftliche Tatsache hat je verwegenere Schlüsse und trübere Träumereien hervorgerufen als diese und die benachbarte des magnetischen Schlafes. Friedrich Schlegel bezeichnet den Galvanismus des Geistes als eine von Hardenbergs Lieblingsideen, im Sommer 1798. »Wie nun seine Theorie der Zauberei, jener Galvanismus des Geistes und das Geheimnis der Berührung sich in seinem Geiste berühren, galvanisieren und bezaubern, das ist mir selbst noch ziemlich geheim. Unterdessen ist der Galvanismus des inneren Menschen für mich, wie Kant sagen würde, ein artiger Gedanke und das übrige hoffe ich durch die sokratische Tortur zu erfahren.« In diesem Sinne erklärte Hardenberg das Denken für eine Galvanisation. Eine Berührung unseres Geistes mit einer geheimnisvollen Kraft finde da statt. Der geistige Verkehr, die Liebe, die Religion – alles ward ihm zu einer Art von Zauberei.

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