Wilhelm Dilthey: Novalis. In: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Göttingen 141965. S. 187-241, hier S. 187-190.
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Novalis
Homer, Shakespeare, Cervantes scheinen in ihrer anschaulichen Erkenntnis die Welt aufzufassen, wie sie an sich ist; die Natur selber blickt aus ihren Augen, sie, welche mit einem allumfassenden Sinne, ohne Vorliebe und ohne Ausschließung, in einem Meere von Farben und Gestalten wirksam ist. Weit von ihnen ab stehen andere, welche die Welt wie durch ein brechendes und absorbierendes Medium erblicken; alle Dinge nehmen die Farbe ihres Gemüts an. Gerade darum aber ist uns zu ihnen ein persönlicheres, vertraulicheres Verhältnis möglich. Denn jene großen objektiven Dichter haben wie die Könige keine Freunde.
Novalis zeigt uns alle Dinge in einem ihm eigenen Lichte. Indem wir nur seinen Namen uns zurückrufen, so umfängt uns die Welt, wie sie ihm erschien, wie ein abendstilles Tal einen Wanderer, der mit den letzten Strahlen der Sonne vom Gebirge hinabsteigt: stille, warme Luft ringsum: in weißem, mattem Glanze steht an dem noch bläulichen Himmel der Mond: traulich umschließen uns die Berge, aber sie engen uns nicht ein: kein Gedanke kommt uns, daß jenseits ihre Pfade nach unruhigen Städten und Ländern laufen.
Alles vereinigt sich zu diesem Eindruck, seine Denkart, sein Schicksal, die Verhältnisse, in denen er lebte. Er war so fern von dem Lärm des Tages. Die Not des Lebens berührte ihn nicht. Eben kaum gereift, erlebt er jene glücklichen Jenaer Tage, in denen die romantische Weltansicht in ihrer Blüte stand, in denen Friedrich und Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und Schelling den Traum einer neuen Poesie und Philosophie träumten. Er prägt dem, was damals geschah, etwas von seiner vornehmen, tiefen Seele auf; bevor er das dreißigste Jahr erreicht hat, stirbt er. Über seinem Andenken liegt ein Schimmer von Poesie, der auch aus allen Worten seiner Freunde glänzt, sooft sie von ihm reden.
Demgemäß haftete an ihm von Anfang an ein ganz persönliches Interesse. Und dies ist nicht der letzte Grund für die Tatsache, daß seine Schriften die weitaus verbreitetsten und gelesensten aus der romantischen Schule sind. Zu diesem Interesse trat das an der besonderen Gestalt, welche das Christentum in seinem Geiste annahm. Diesem Interesse entspricht es wenig, daß die Bruchstücke seiner Werke, wie sie seine Schriften enthalten, in Rücksicht auf
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ihre Absicht und den ihnen zugrunde liegenden Plan noch so gut als ununtersucht sind.
Diese Untersuchung könnte wohl den Literaturhistoriker reizen. Was mich auf Novalis führt, ist die weitergreifende Hoffnung, an ihm einige der wichtigeren Motive der Weltansicht aufzuklären, welche in der auf Goethe, Kant und Fichte folgenden Generation hervortritt. In einem näher zu bestimmenden Sinne kann man den umlaufenden Namen der Romantik für diese Weltansicht in Anspruch nehmen. Falls man nicht vorzieht, dem Mißbrauch, der seit mehr als einem halben Jahrhundert mit diesem Namen getrieben worden ist, einmal dadurch ein gründliches Ende zu machen, daß man sich seiner entledigt.
Hierbei fragt sich nun vor allem, wie die Betrachtung eines einzelnen Mannes eine Einsicht in die allgemeinen Motive der intellektuellen Kultur seiner Generation eröffnen könne.
Ganz unzählig und grenzenlos sind die Bedingungen, welche auf die intellektuelle Kultur einer Generation einwirken. Es sei gestattet, dieselben in zwei Faktoren zu zerlegen. Zunächst tritt gewissermaßen der Besitzstand der intellektuellen Kultur hervor, wie er sich zu der Zeit vorfindet, in welcher diese Generation sich ernsthaft zu bilden beginnt. Indem sich das heranwachsende Geschlecht des angesammelten geistigen Gehalts bemächtigt und von ihm aus fortzuschreiten sucht, befindet es sich dabei unter den Einflüssen des zweiten der Faktoren, in welche wir die Bedingungen zerlegen: des umgebenden Lebens, tatsächlicher Verhältnisse, gesellschaftlicher, politischer, unendlich vielartiger Zustände. Damit werden nun den Möglichkeiten weiterer Fortschritte, die von jeder früheren Generation aus sich darbieten, bestimmte Grenzen gezogen. Hierbei ist aber die wahre Natur unseres Verfahrens mit den geschichtlichen Bedingungen hervorzuheben. Wir lassen nämlich den allergrößten Teil derselben ganz außer Rechnung und behandeln eine begrenzte Reihe, die wir aus ihnen aussondern, ohne weiteres als die Totalität derselben. Wenn wir also den Anspruch machen, sie durch unsere Analyse darzustellen, so kann schon aus diesem Grunde dieser Anspruch nur auf eine sehr approximative Richtigkeit gehen. Wir erklären nur aus den hervorragendsten Bedingungen.
Aber wir erklären nicht durch sie allein. Die Bedingungen enthalten nicht den vollen Erklärungsgrund intellektueller Phänomene. Vielmehr ist das Verhältnis dieses, daß sich nur unter ihnen, das heißt unter ihrer Voraussetzung, die Bildung einer Reihe von Individuen vollzieht, welche der geistigen Kultur einer Zeit ihren Charakter geben. Und hiermit scheinen wir nun ganz der Willkür der schaffenden Natur übergeben zu sein, aus deren rätselhaftem
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Schoße die Individuen in einer bestimmten Auswahl und Reihenfolge sich erheben. Oder läge hier doch in den Bedingungen eine Bestimmung? Mit bescheidenster Vorsicht können wir diese Bestimmung wenigstens in negativer Form hinstellen, als Grenze. Die Bedingungen schließen die Variabilität dessen, was sich bildet, in bestimmte Grenzen ein.
Welche Methode folgt nun hieraus für das Studium der intellektuellen Kultur einer Epoche? Wir dürfen hier nur andeuten. Ein höchst fruchtbarer Begriff, über den freilich eingehender zu reden wäre, ist hier der der Generation. Der glücklichste Fall ist, wo eine solche Generation in so deutlicher Abgrenzung auftritt, daß es sich geradezu um ihr Studium handelt. In diesem Falle sind wir hier. A. W. Schlegel, Schleiermacher, Alexander von Humboldt, Hegel, Novalis, Friedrich Schlegel, Hölderlin, Wackenroder, Tieck, Fries, Schelling: sie alle zeigen im ersten Jahrzehnt ihres Auftretens in ihrem intellektuellen Charakter aufs schärfste die Wirksamkeit der Bedingungen, unter welchen sie gemeinsam erwachsen waren. Eine höchst verderbliche Illusion findet sich nun bei denen, welche auf Grund eines so tiefgreifenden Einflusses der Bedingungen aus ihnen die geistige Kultur einer Generation ableiten zu können hoffen. Ich leite ab, indem ich aus der Verbindung der Ursachen eine Folge berechne. Dieses Verfahren ist der geschichtlichen Forschung schlechterdings verschlossen. Sie geht umgekehrt von den Phänomenen aus. Sie ist demnach der höchsten wissenschaftlichen Vollendung, welche sich imstande zeigt, aus den zusammenwirkenden Ursachen einen gewissen Umkreis von Phänomenen zu erklären, schlechterdings nicht fähig, auch nicht unter Voraussetzung der größten Steigerung ihres wissenschaftlichen Charakters. Was uns hierüber so leicht täuschen kann, ist die Form der historischen Darstellung. Diese schreitet überall mit der Zeit vorwärts, ableitend, aus Ursachen Folgen entwickelnd, womöglich aus der Gesamtheit eines ursächlichen Zustandes den Inbegriff des dadurch Bedingten. Ein solches Verfahren ist sehr geschickt, unsere Phantasie in die Stimmung zu versetzen, in welcher sie die historischen Ereignisse vor ihren Augen entstehen zu sehen glaubt. Die Wissenschaft muß erkennen, daß dies Verfahren auf einer Illusion beruht. Der Gang unserer historischen Forschung und strengen Erkenntnis ist dem viel ähnlicher, welchen Hippel in einem künftigen Roman zu applizieren versprach: er wollte einmal rückwärts, immer tiefer in die Vergangenheit hinein, vom Tode der Geburt, von den Folgen den Ursachen entgegen seinen Weg nehmen.
Demgemäß können wir für das Studium einer schwierigen Epoche intellektueller Natur nur in der wechselnden Betrachtung der Individuen und ihrer Bedingungen einerseits, des Komplexes vorhan-
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dener Bedingungen und ihrer Folgen anderseits voranschreiten. Die glatte Darstellung ist nichts als eine Täuschung, wenn auch eine angenehme. Unter solchem Gesichtspunkt erscheint vielleicht die biographische Skizze, die wir hier entwerfen, nicht unnütz für das Studium der Generation, welcher Novalis angehört und die in Liebe und Haß uns noch immer beschäftigt.
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