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Aquarium > Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert > Thomas Carlyle: Novalis (1829) > [VII. Schluss: Novalis als »deutscher Pascal«]

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Thomas Carlyle: Novalis (1829). In: Thomas Carlyle's ausgewählte Schriften. Deutsch von A. Kretzschmar. Zweiter Band. Voltaire. – Diderot. – Novalis. – Charakteristiken. Leipzig: Otto Wigand 1855. S. 154-210, hier S. 204-210.

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Unser Leser hat ihn ausführlich gehört, über eine große Menge von Gegenständen und in kürzeren oder längeren Citaten, die wir so ausgewählt, wie es für unsern Zweck am passendsten zu sein schien, und von unserer Seite mit dem aufrichtigen Wunsche, daß das beschränkte Urtheil, welches mittlerweile über einen solchen Mann gebildet werden kann, ein unparteiisches und ehrliches sein möge.

Einige der von uns ausgehobenen Stellen werden dunkel erscheinen; andere sind, wie wir hoffen, nicht ohne Symptome einer weisen und tiefen Bedeutung; die übrigen mögen Verwunderung erregen und es wird dann

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von jedem einzelnen Leser abhängen, ob er etwas Wahres oder etwas Falsches herauszuklügeln vermag.

Für die große Masse der Leser kann – das wissen wir wohl – Novalis nicht viel nützen, denn er beschäftigt unsere Zeit mehr, als er sie tödten hilft und Leuten, die bloßen Zeitvertreib suchen, möchte ein Studium dieses Schriftstellers nicht anzurathen sein.

Andere dagegen, welche die Wahrheit als den Zweck aller Lectüre schätzen, besonders der Klasse, welche die Wissenschaft der Moral als die Entwickelung der reinsten und höchsten Wahrheit cultivirt, können wir die wiederholte Lectüre der Schriften von Novalis mit fast vollkommenem Vertrauen empfehlen. Wenn sie eben so wie wir der Ansicht sind, daß die gewinnreichste Beschäftigung, die irgend ein Buch ihnen gewähren kann, darin besteht, daß sie redlich und eifrig einen ernsten, tiefdenkenden, wahrheitliebenden Menschen studiren und sich in seine Denkweise hineinarbeiten, bis sie die Welt mit seinen Augen sehen, so fühlen, wie er fühlte, und urtheilen, wie er urtheilte, ohne zu glauben oder zu leugnen, bis sie in gewissem Grade so fühlen und urtheilen können, – dann können wir versichern, daß von den uns bekannten Büchern wenige ihrer Aufmerksamkeit würdiger sind als dieses. Sie werden darin eine unergründliche Fundgrube philosophischer Ideen finden, wo auch der schärfste Verstand Beschäftigung genug findet.

Alles dies wird der Fall sein, wenn der Leser nach ehrlichen Grundsätzen verfährt; geschieht dies aber nicht, so wird Alles anders sein, denn auf keinen Schriftsteller ist so sehr wie auf Novalis jenes berühmte Motto anwendbar:

»Leser, wie gefall ich Dir?
Leser, wie gefällst Du mir?«

Uebrigens wäre es ein unrichtiges Verfahren von uns, wenn wir hier eine förmliche Charakteristik Novalis' versuchen, mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln diese außerordentliche Natur auf gewöhnliche Formulare zurückführen und den Nettobetrag seines Werthes und seines Unwerthes in wenigen Worten aufsummiren wollten.

Wir haben wiederholt unsere eigene unvollkommene Kenntniß der Sache ausgesprochen, eben so wie daß wir vollständig daran verzweifeln, Lesern, die ihm so ganz fremd sind, auch ein nur annäherndes Bild davon

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zu entwerfen. Die freundlichen Worte »liebenswürdiger Enthusiast«, »poetischer Träumer«, oder die unfreundlichen »deutscher Mystiker«, »verschrobener Rhapsodist«, sind leicht gesprochen und geschrieben, würden aber in diesem Falle wenig nützen. Wenn wir uns nicht ganz irren, so kann Novalis nicht unter eine dieser berühmten Kategorien gerechnet werden, sondern gehört einer höheren und viel weniger bekannten an, deren Bedeutsamkeit vielleicht ebenfalls des Studiums werth ist und auf alle Fälle uns erst nach langen Studien klar werden wird.

Mittlerweile möge der Leser sich mit einigen unbestimmten Gedanken und Ansichten von unserer Seite begnügen, da wir ihm kein festes Urtheil darüber vorzulegen haben.

Wir möchten sagen, daß der Hauptvorzug, den wir an Novalis bemerkt haben, seine uns wahrhaft wunderbare Subtilität des Verstandes ist, seine Fähigkeit, fortwährend zu abstrahiren und die tiefsten und flüchtigsten Ideen durch ihre tausendfachen Irrgänge gleichsam mit Luchsaugen und bis an die äußersten Grenzen des menschlichen Denkens zu verfolgen. Er war in der Mathematik wohl bewandert und, wie sich leicht voraussetzen läßt, ein großer Freund dieser Wissenschaft; aber seine Begabung war eine noch weit höhere und schönere, als die zur Mathematik erforderliche, wo der Geist vom Anfange des Euclid an bis zum Ende des Laplace mit sichtbaren Symbolen, mit untrüglichen Werkzeugen des Denkens versehen wird, ja wo er, wenigstens bei dem, was man die höhere Mathematik nennt, oft wenig mehr als eine mechanische Aussicht über diese Werkzeuge zu üben hat.

Diese Fähigkeit zum abstracten Denken ist, wenn sie so sicher und klar ist, wie wir sie zuweilen bei Novalis finden, eine viel höhere und seltnere. Ihr Element ist nicht Mathematik, sondern jene Mathesis, von welcher man gesagt hat, daß mancher große Rechner nicht einmal einen Begriff von ihr habe.

In dieser Fähigkeit aber liegt, so weit logische und nicht moralische Fähigkeit in Frage kommt, die Summe alles philosophischen Talents, welches Talent demgemäß Novalis nach unserer Ansicht in einem sehr hohen Grade besaß, in einem höheren, als fast irgend ein moderner Schriftsteller, den wir kennen gelernt.

Sein hauptsächlicher Fehler dagegen stellt sich uns als eine gewisse übertriebene Weichheit, als ein Mangel an rascher Energie dar, als etwas, was wir eine sich sowohl über seinen Geist, als seinen Charakter erstreckende

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Passivität nennen möchten. Novalis besitzt eine fast weibliche Zartheit, Reinheit und Klarheit, aber nicht – wenigstens nicht in diesem Grade – den Nachdruck und die entschlossene Kraft des Mannes.

So ist er in seinen poetischen Schilderungen, wie wir schon oben beklagten, viel zu weitschweifig; gerade nicht, was man wortreich nennt, denn er hat nicht sowohl eine Fülle an überflüssigen Worten, als vielmehr eine Fülle an überflüssigen Umständen, was in der That nur einen Grad besser ist.

Bei seinen philosophischen Betrachtungen kommt es uns vor, als ob unter einer andern Form derselbe Fehler sich dann und wann offenbarte. Auch hier erscheint er uns in gewisser Beziehung zu matt, zu passiv. Er sitzt, möchten wir sagen, unter den schönen tausendfachen Combinationen, welche sein Geist ihm fast von selbst darbietet; vielleicht aber zeigt er zu wenig Thätigkeit bei diesem Prozeß, ist zu lax beim Trennen des Wahren von dem Zweifelhaften, ja er nimmt sich nicht einmal die Mühe, seine Wahrheit mit Sorgfalt und Genauigkeit auszudrücken.

Mit seiner Ruhe, seiner innigen Liebe zur Natur, seinem sanften, erhabenen, geistvollen, contemplativen Tone kommt er uns fast vor, wie ein asiatischer Charakter, fast wie unser Ideal von einem Gymnosophisten des Alterthums und mit der Schwäche eines Orientalen eben so ausgestattet wie mit seiner Kraft.

Hierbei darf man indessen nicht vergessen, daß sowohl seine poetischen als seine philosophischen Werke, so wie wir sie jetzt sehen, unter vielen ihnen nachtheiligen Umständen vor die Oeffentlichkeit gelangt sind. Sie sind noch ganz und gar unreif und noch nicht wirkliche Theorien und Schilderungen, sondern gleichsam nur der erste rohe Entwurf zu solchen. Wären sie vollendet worden, so würde Vieles darin eine andere Form bekommen haben, und dieser Fehler mit vielen anderen verschwunden sein. Es ist deshalb möglich, daß dies nur ein oberflächlicher Fehler, oder auch nur der Schein eines Fehlers ist, der seinen Ursprung in diesen Umständen und in unserer unvollkommenen Auffassung hat. In seinem persönlichen und körperlichen Verhalten wenigstens scheint Novalis gerade das Gegentheil von träg gewesen zu sein, denn wir hören ausdrücklich von der Raschheit und Heftigkeit seiner Bewegungen.

In Bezug auf den Charakter seines Genius oder vielleicht mehr seiner literarischen Bedeutsamkeit und die Form, unter welcher er seinen Genius entfaltete, glaubt Tieck, man könne ihn mit Dante vergleichen. »Ihm,«

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sagt er, »war es zur natürlichsten Ansicht geworden, das Gewöhnlichste, Nächste als ein Wunder, und das Fremde, Uebernatürliche als etwas Gewöhnliches zu betrachten. So umgab ihn das alltägliche Leben selbst wie ein wundervolles Märchen, und jene Region, die die meisten Menschen nur als ein Fernes, Unbegreifliches ahnen oder bezweifeln wollen, war ihm eine liebe Heimath. So erfand er, von Beispielen unbestochen, einen neuen Weg der Darstellung, und in der Vielseitigkeit der Beziehung, in der Ansicht der Liebe und dem Glauben an sie, die ihm zugleich Lehrerin, Weisheit und Religion ist, darin, daß ein einziger großer Lebensmoment und ein tiefer Schmerz und Verlust das Wesen seiner Poesie und Anschauung wurde, gleicht er unter den Neueren allein dem erhabenen Dante, und singt uns wie dieser einen unergründlichen mystischen Gesang, sehr verschieden von jenem mancher Nachahmer, welche die Mystik wie ein Ornament glauben an- und ablegen zu können.«

Wenn man die Tendenz seiner poetischen Bestrebungen sowohl als den allgemeinen Geist seiner Philosophie erwägt, so erhält dieser schmeichelhafte Vergleich zuletzt vielleicht eine bessere Begründung, als dies auf den ersten Anblick der Fall zu sein scheint.

Trotzdem würden wir, wenn wir aufgefordert würden, einen solchen, stets mißlichen, Vergleich zu ziehen, Novalis lieber den deutschen Pascal, als den deutschen Dante nennen. Zwischen Pascal und Novalis würde ein Freund solcher Analogien eine ziemliche Anzahl solcher Vergleichungspunkte auffinden. Beide besitzen die reinste, liebreichste moralische Natur; beide einen hohen, schönen, scharfsinnigen Verstand; beide sind Mathematiker und Naturforscher, beschäftigen sich aber hauptsächlich mit Religion, ja die besten Schriften beider sind in der Form von »Gedanken« hinterlassen worden, als die Materialien eines großartigen Planes, den jeder von ihnen mit den seiner Zeit eigenthümlichen Ansichten, wir können sagen, zur Förderung der Religion entworfen hatte, und zu dessen Ausführung keinem von beiden die nöthige Lebensfrist gestattet war. Bei alledem dürfte man aber immer nicht vergessen, daß Novalis nicht der französische, sondern der deutsche Pascal war, und aus den intellectuellen Gewohnheiten des einen wie des andern ließen sich viele nationale Contraste und Schlüsse ziehen, welche wir Denen überlassen, die eine besondere Vorliebe für solche Parallelen besitzen.

So sind wir bemüht gewesen, einige Ansichten und Vorstellungen nicht von Dem mitzutheilen, was man gewöhnlich einen deutschen Mystiker nennt,

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sondern von Dem, was ein deutscher Mystiker ist; unseren Lesern einige Blicke in seinen Haushalt werfen zu lassen und ihnen mit ihren eigenen Augen zu zeigen, wie er lebt und arbeitet. Wir haben es überdies nicht im Style des Spottes gethan, der so leicht gewesen wäre, sondern in dem ernster Forschung, welcher uns viel gewinnreicher zu sein schien. Dafür erwarten wir nicht den Tadel, sondern den Dank unserer Leser.

Der Mysticismus sollte, was er auch sein möge, eben so wie andere wirklich existirende Dinge von wohlunterrichteten Gemüthern verstanden werden. Wir haben schon bemerkt, daß das althergebrachte Gelächter über diesen Gegenstand in der letzten Zeit etwas hohl geworden ist und binnen Kurzem fast ganz verstummen zu wollen scheint. Nach unserer Ansicht ist jetzt in England in Bezug auf diesen und andere verwandte Gegenstände ein unverkennbarer Geist toleranter und nüchterner Forschung rege – eine immer weiter und weiter sich ausbreitende Ueberzeugung, daß das Senkblei der französischen oder schottischen Logik, so vortrefflich, ja unumgänglich nothwendig es bei der Untersuchung der Küsten und Häfen sein mag, doch für die hohe See der menschlichen Forschung nicht ausreicht, und daß mancher Voltaire und Hume, reichbegabte und verdienstvolle Männer, sich sehr irrten, wenn sie glaubten, daß sie, als ihre sechshundert Faden zu Ende waren, den Grund erreicht hätten, der, wie in dem atlantischen Meere, noch unbekannte Meilen tiefer liegen kann. Sechshundert Faden ist die längste und eine ganz ansehnliche nautische Leine; viele Menschen aber sondiren mit sechs und noch weniger Faden, und kommen damit genau zu demselben Schlusse.

»Die Zeit wird kommen,« sagte Lichtenberg mit bitterer Ironie, »wo der Glaube an Gott sein wird, wie der Glaube an Ammenmärchen,« oder wie Jean Paul sich ausdrückt, wo man »aus der Welt eine Weltmaschine, aus dem Aether ein Gas, aus Gott eine Kraft, und aus dem Jenseits einen Sarg« machen wird. Wir aber glauben, daß ein solcher Tag nicht kommen werde. Auf alle Fälle gestatte man, während die Schlacht noch wogt und diese Sarg- und Gas-Philosophie sich noch nicht mit Zehnten und peinlichen Statuten gewappnet hat, dem Mysticismus oder was sich sonst auf ehrliche und redliche Weise dieser Philosophie widersetzt, freien Spielraum. Unparteilichkeit und freie Bahn und das Recht wird den Sieg behaupten! »Unsere gegenwärtige Zeit,« sagt Jean Paul ungefähr an einer andern Stelle, »ist in der That eine kritisirende und kritische Zeit, denn sie

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schwankt zwischen dem Wunsche und der Unfähigkeit zu glauben; sie ist ein Chaos widerstreitender Zeiten, aber selbst eine chaotische Welt muß ihren Mittelpunkt und ihre Umdrehung um diesen Mittelpunkt haben. Es giebt keine reine gänzliche Verwirrung, sondern eine jede solche setzt ihr Gegentheil voraus, bevor sie beginnen kann.«

zurck
[VI.]


 


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Letzte Änderung am 04.12.2004.
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