Luther in Stößen
Nach Stößen, das in alten Zeiten aus der
Markt- und der Berggemeinde bestand, kam
im Januar 1542 auf der Reise von Naumburg
nach Zeitz Martin Luther. Bürgermeister,
Ratsherren, Bürger, nicht zu vergessen der
Pfarrer und der Schulmeister, hatten sich
auf dem Marktplatze versammelt, um den
berühmten Mann zu begrüßen. Nachdem der
Reisewagen des Reformators gehalten hatte,
ertönte der Lutherchoral »Nun freut euch,
lieben Christen g'mein«, gesungen von den
Stößener Schulkindern. Martin Luther stieg
aus, begrüßte die versammelte Gemeinde und
ließ sich von dem Pfarrer einiges über die
kirchlichen Verhältnisse im Orte
berichten. Manche Sorge hat der Pfarrer da
wohl dem Reformator vorgetragen, war doch
eben wieder ein Streit zwischen der Berg-
und der Marktgemeinde wegen der Hirten
ausgebrochen. Der Pfarrer meinte, die
Stadt solle auch für jede der beiden
Gemeinden einen Geistlichen haben. Das
leuchtete Luther ein, und er sprach zu den
Versammelten: »Ich sehe, dass eure Stadt
in Ordnung ist. Nur um eins bitte ich
euch: Ihr haltet zwei Hirten für euer
Vieh, haltet in Zukunft auch zwei Hirten
für eure Seelen! Ich bin bereit, euch
einen jungen Kaplan zu schicken.« Doch
Luthers wohlgemeinter Vorschlag fand so
gut wie keine Gegenliebe. Der lange
Schneider Wiebel rief: »Das können wir
nicht bezahlen«, und die allermeisten
stimmten ihm zu. Alle Höflichkeit
gegenüber dem berühmten Manne war
vergessen; man sprach erregt
durcheinander. Schließlich meinte der
Bürgermeister: »Einen zweiten Hirten für
unser Vieh können wir nicht entbehren,
wohl aber einen Kaplan. Das Geld können
wir sparen.« Da bestieg Luther enttäuscht
wieder seinen Reisewagen. Beim Abschied
drückte er dem Pfarrer die Hand und
sprach: »Nicht müde werden, dort unter der
Brücke sitzt der Teufel!«
Aus: Die vergrabene Truhe. Sagen und
Erzählungen aus dem Gebiet um Weißenfels,
Hohenmölsen und Zeitz. Ausgewählt und
zusammengestellt von Adolf Schmiedecke.
Weimar: Wartburg-Verlag 2002. S. 52-53.
|