Louise von Francois über Novalis, Müllner, L. Brachmann und Seume
Ich durchschlenderte die kleine
freundliche Stadt (Weißenfels) ... Am Ende
einer Gasse sah ich ... über einem
Gittertor die goldenen Worte Memento mori
(denk an den Tod). Die Stätte der Toten
lag vor mir ... Ich stieg die
Eingangsstufen hinan, und mein erster
Blick fiel auf einen sauber neu
eingehegten Platz ... Das erste Grab auf
dem Gottesacker zeigte auf einer
bräunlichen Marmorplatte den Namen
Novalis. Da ruhte er, der Sänger, der
unser Dante hätte werden können, wenn die
scharfe Sichel ... ihn nicht erfasst
hätte, ehe er seine Reife vollbringen
konnte ... Er entschlief bei den Tönen des
Klaviers.
So wurdest Du zum Himmel hingezogen.
Sanft in Musik schiedst Du in Freundes Armen.
Der Frühling wich, und Klagen ziemt uns Armen.
So schließt Ludwig Tieck das schönste
seiner Sonette an den Dichterfreund.
Und
Du schienest, losgerissen von der Erde
Mit leichten Geistesschritten schon zu wandeln
Und ohne Tod der Sterblichkeit genesen.
beginnt A. W. Schlegel sein
»Totenopfer an Novalis«, Friedrich
Schlegel war Zeuge dieses stillen, schönen
Sterbens. Wie mich der grüne Hügel
berührte. Ein Fliederbusch duftete in
seiner Nähe, und ein Vögelchen zwitscherte
in seinen Zweigen ... Leise umschwirrten
mich seine Gotteslieder und
Auferstehungshymnen. Ich fühlte alles, was
er uns war, was er uns werden sollte ...
In dem Augenblicke sah ich nur wenige
Schritte von dem Grabe dieses
idealistischen Menschen einen Würfel mir
entgegenspringen, von einfachem, rötlichen
Stein. Eine Linde beschattete ihn, und
unter einem goldenen Eichenkranze las ich
den Namen: Adolph Müllner.
Was der Tod nicht alles duldet! – Der Wind
kann den Staub dieser Leiber ineinander
wehen, und wie würden die Geister sich
geflohen haben.
Zwar, sie lebten dicht beisammen in der
kleinen Stadt, in der stillen Straße nahe
dem verödeten Kloster und seiner Kirche.
Nur wenige Häuser trennten sie. Sie waren
fast gleichen Alters und vollen Strebens,
der junge rechtskundige Advokat und der
junge naturkundige Assessor der Salinen.
Aber welche Kluft der Geister!
Alles, was Menschen trennen kann, lag
zwischen diesen beiden. Die ganze Wucht
des Tiefsinns, aller Zauber der Liebe und
der Natur in ihrer größten Bedeutung trieb
sie auseinander. Und dennoch – von dem
eigentlichen Leben des schönen mystischen
Denkers und Dichters wirkt noch eine Spur
unter seinen nächsten Umgebungen? – ...
Ich glaube es nicht ... Er war ein
Einzelwesen, Novalis. Wie die blaue
Wunderblume seiner Träume stand er
inmitten eines Küchengartens, und Adolph
Müllner war der Baum, der diesen Garten
überschattete ... Müllner war seiner Natur
nach Advokat; er hätte es bleiben sollen
... Eine Ader seines Oheims Bürger hatte
sich in seinen Organismus verirrt. Sein
Platz auf dem Gottesacker liegt an der
Grenze eines schmalen, grünen Tales. Ein
halbes Stündchen geht man längs eines
plätschernden Bächleins zwischen Obst- und
Wiesenbäumen und ist in Langendorf. Hier
wurde Müllner geboren. Sein Vater war
Amtsverwalter des Klosters ... Jetzt ist
es ein Waisenhaus. Im elterlichen Hause
sah der Knabe als Alumnus von Pforta
mehrmals den Bruder seiner Mutter und
blieb mit dessen Familie in naher
Verbindung. Marianne Bürger, die Tochter
des unglücklichen Dichters von der
unglücklichen Molly lebte in Zeiten der
Verlassenheit in ihres Vetters Hause. Auch
Müllners Gattin trug einen Dichternamen.
Sie hieß von Logau. Aber auch durch sie
konnte kein poetischer Hauch in sein Leben
... dringen ... seine Theaterpassion
bestimmte ihn, eine Liebhaberbühne zu
errichten, auf welcher er selbst die
ersten Rollen spielte. Er hatte eine große
Gabe, darstellende Kräfte aufzuspüren und
auszubilden. In dieser Beziehung
entwickelte er eine Tätigkeit, die eines
größeren Terrains würdig gewesen wäre. Und
besonders die Aufführung seiner eigenen
»Schuld« (Schicksalstragödie von Müllner)
soll nach der Aussage von Kennern und
Künstlern ein Muster- und Meisterstück
gewesen sein ... Eines Tages, im hohen
Sommer, verbreitete sich wie ein Blitz die
Nachricht: Müllner ist tot (gestorben
29. 6. 1829) ... Ob ein Auge ihn
beweint hat mit Tränen wahrhaftiger Liebe?
– fragte ich mich, als ich vor dem roten
Würfel stand, und unwillkürlich setzte ich
im Geiste zwischen diesen und den Hügel
des liebesseligsten Dichters auf jener
Seite ein drittes Grab, das hierher
gehörte.
Wie oft hatte Luise Brachmann es in diesen
Mauern gesucht! Aber ihr seltsames
Schicksal wollte, dass sie nicht starb, wo
sie gelebt und gelitten hatte, und
dennoch, dass es die Fluten ihres
heimischen Flusses waren, die sie in ihrem
Schöße bergen sollte. (Sie ertränkte sich
am 22. 9. 1822 bei
Giebichenstein.) ... Es war ein heißes,
irrendes Herz, das sich da unten kühlte
... Mißverstanden, verlacht, verlassen,
voll Scham über sich selbst suchte sie
schon in früher Jugend aus dem Leben zu
flüchten ... Ihre Sucht zu sterben, war
Sehnsucht, Sehnsucht frei von den
Hemmnissen des Leibes, ganz ein liebender
Geist, sich hinzugeben an einen höheren
Geist ... Sie war eine Zeitgenossin von
Novalis, seine Freundin und die tägliche
Gefährtin seiner Schwestern. Aber ihr
Leben ragte auch noch hinein in das des
juristischen Dichters. Mit welcher
Gelassenheit hat sie seinen Spott
getragen! ... Sie sollte nicht ganz
vergessen sein, die arme Luise. Viele
ihrer Lieder sind noch heute warm von dem
Blute ihres Herzens. Keines von allen war
ihr eine Phrase. Als ich den Kirchhof
verlassen hatte ... erinnerte ich mich
lebhaft eines Abends, den ich ... in
diesem Städtchen verbrachte, auch in dem
Hause einer Dichterin ... Fanny Tarnow
hatte eben damals ihre »Zwei Jahre in
Petersburg« erscheinen lassen, und mancher
fragende Blick schweifte nach dem »alten
Diplomaten«, dem Freunde Klingers, hin und
her, zwischen der stolzen Newa und der
bescheidenen Saale. Wir sprachen damals
vieles über diese einstigen Koryphäen der
kleinen Stadt, was in dieser Stunde wieder
in mir lebendig wurde ... Waren es nicht
wirkliche, eigenartige, selbstlebende
Gestalten, die in dem engen Raume an mir
vorüberschwebten? – Gestalten, an welchen
einst die Guten und Besten ihres Landes
sich erfreuten, sich noch erfreuen? Und
doch sind wir noch nicht zu Ende mit den
Dichternamen, die über die Mauern dieser
kleinen Stadt hinausgeklungen sind.
Ei, Kleiner! Du in der schwarzen Lederhose
und blauen Leinenjacke, mein Junge, sollte
ich dich nicht kennen? – Ja, du kleine
ehrliche Haut, das sind schon die Augen
und Züge des Mannes, der »die Krankheit
hatte, keine Ungerechtigkeit sehen zu
können, ohne aufzuschreien«. Aber was
machst du hier ganz allein in der Stadt,
kleiner Gottfried? Willst du den
Pfingstkuchen deiner Vettern und Basen
über der Saale kosten? – Nimm dich in
acht, die Seumes sind zahlreich in dieser
Gegend, und wohlhabend. Du sitzest mitten
drin im Lande des Kuchens, du wirst dir
den Magen verderben, mein Junge! Oder
willst du auf dem Markte eine Maie kaufen?
Das Haus deiner Mutter zu schmücken zum
morgenden Feste? – Freilich, in deiner
Fläche wachsen nur Pflaumen und Kirschen.
Der Boden ist viel zu saftig für Pfingst-
und Weihnachtsbäume. Ach das träumst du
wohl nicht, du ehrlicher Knabe, dass in
deinem lieben heimischen Poserna bald
einer predigen wird, den sie hernach den
deutschen Eugen Aram nennen, ein Priester,
der eine Frau, eine befreundete Frau
totschlägt, um sich mit ihrem Gelde Bücher
zu kaufen, um lernen zu können. (Tinius).
Kannst du das fassen, so arm du bist und
leselustig, Gottfried Seume? – Du echtes
Thüringer Blut! Ja, ich kenne dich, ich
kenne auch deinen strengen, tugendhaften
Andreas (Vater des Dichters), und die gute
freundliche Alte. Ja, wir sind eines
Stammes, du und ich. Und wenn ich mal eine
Dorfgeschichte schreibe, da sollt ihr
meine Vorbilder sein, ihr Leute von
Poserna ...
Aber es sei genug für heute. Wir sind
geneigt, bis auf wenige, unsere Geister
schnell zu vergessen. Einen Augenblick
blenden sie uns, und dann lassen wir sie
schwinden und wenden uns neueren Sternen
zu. Das ist natürlich und vielleicht auch
recht. Nur Sonnen leuchten über alle
Zeiten. Auch mag wohl ein gutes Teil
Eitelkeit unter der Dankbarkeit sein, mit
welcher das Vorvolk in dem Kultus des
Genius auch seine Geister zweiten und
dritten Ranges in der Erinnerung hegt und
pflegt. Von Zeit zu Zeit aber sei es
vergönnt, ja sei es uns Pflicht, das
Verlöschende anzufachen und auf die
Geister hinzudeuten, die ihrer Stunde und
ihrem Kreise geleuchtet haben, zu fragen,
was sie noch heute uns sind und werden
können. Vor allem aber liegt es uns ob,
aus der Umgebung, in welcher sich diese
Geister entfalten, die Eigentümlichkeit
deutschen Lebens zu entwickeln, die in der
um sich greifenden poetischen
Zentralisation zu versinken droht.
Aus: Die vergrabene Truhe. Sagen und
Erzählungen aus dem Gebiet um Weißenfels,
Hohenmölsen und Zeitz. Ausgewählt und
zusammengestellt von Adolf Schmiedecke.
Weimar: Wartburg-Verlag 2002. S. 125-128.
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