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Aquarium > Sekundäres > Novalis als Mottogeber > Stephan Wackwitz: Walkers Gleichung


Stephan Wackwitz' Erzählung Walkers Gleichung und die Bedeutung des vorangestellten Novalis-Zitats

Von Frank Fischer

Siegmund Walker arbeitet an der deutschen Botschaft in der Hauptstadt eines fiktiven Tropenarchipels. Er ist als »professioneller Formulierungsspezialist« für die stilistische Aufbereitung des botschaftlichen Briefverkehrs zuständig (S. 114), nimmt sich selbst aber vor allem als Essayist wahr.

Bei einem Empfang gibt er jedoch unwillkürlich vor, einen Roman »über uns« zu schreiben (S. 53), also über das Leben der Auslandsdeutschen. Seiner Meinung nach sei eine solche Beschreibung ein Spiegel für das Leben in der deutschen Gesellschaft, die für ein derartiges Vorhaben inzwischen viel zu komplex und beliebig geworden sei.

Bei der Skizzierung des nicht existierenden Plots überspannt Walker jedoch den Bogen. Er spricht im Zusammenhang mit der örtlichen Kulturarbeit u. a. von Korruption und lässt damit bei den Inseloberen, zunächst vor allem beim deutschen Botschafter, die Alarmglocken läuten.

Der oberste deutsche Repräsentant vor Ort hat aber noch andere Sorgen: Laut einem CNN-Bericht wurde der Wirtschaftsminister des Inselstaats bei einem Besuch in Leipzig von Jugendlichen tätlich angegriffen. Das so geschädigte Ansehen Deutschlands auf der Tropeninsel und in der Welt soll durch eine kurzfristig organisierte »Multikulturelle Deutschtropische Kulturwoche« wieder hergestellt werden.

Walker, der Hauptorganisator dieser Kulturwoche, ist aber vor allem mit seiner unerfüllten und (wie sich am Ende herausstellt) unerfüllbaren Liebe zu Juliana Hochstraß beschäftigt, einer sirenenhaften Femme fatale. Sexuelle Erfüllung findet Walker in dieser Beziehung nicht, Grund dafür ist Julianas »eigenartig überpersönliches Wesen, ihre sozusagen jeden Mann geschlechtlich und spirituell zugleich betreffende und treffende Wirkung« (S. 263).

»Ich kann nicht mit Männern schlafen«, offenbart sie ihm später (S. 332), aber solange dies nicht feststeht, führt Walker nebenbei ein »Queen Mab« genanntes Notizheft, in dem er Beobachtungen, Gedankengänge und Zitate (Shakespeare, Luhmann, Novalis, Enzensberger u. a.) vermerkt. Überhaupt begegnet man in Wackwitz' Erzählung einigen Größen des deutschen Geisteslebens, sei es in Zitatform oder in persona. So trifft Walker anlässlich der Kulturwoche etwa Jürgen Habermas oder sieht Heiner Müller dabei zu, wie er auf der Bühne Kafkas Schakale und Araber aufsagt, im Wechselgesang mit einem Mannheimer Hip-Hopper.

Wackwitz' Überzeichnungen eigener Auslandserfahrungen als Lektor des Goethe-Instituts (mittlerweile ist er Institutsleiter in Krakau) sind kurzweilig zu lesen. Sein Buch beschränkt sich aber nie auf derlei Anekdoten, sondern verfolgt einen bestimmten Weg, den schon das Novalis-Motto einschlägt, das aus den Notizheften der sogenannten Freiberger Studien (1798) stammt und von Wackwitz vor seine Erzählung gesetzt wird.

Die Romanlüge bekommt Walker bestens, er wird zum Sonderbeauftragten für die Kulturwoche ernannt. Die Personen um ihn herum scheinen ihm zum ersten Mal Respekt entgegenzubringen, und nicht zuletzt gewinnt er auf diese Weise die Aufmerksamkeit von Juliana Hochstraß. Ein Interview mit CNN schließlich informiert den Rest der Welt über Walkers »already notorious literary plans« (S. 187). Der Aufstieg des vorgeblichen Romanciers lässt den Erzähler einen Vergleich zum Heinrich von Ofterdingen ziehen: »Die Blume, die einer im Traum gesehen hat, liegt am Morgen auf seiner Bettdecke. Sie ist blau.« (S. 200)

Walker gewinnt nun aus privilegierter Stellung heraus Einblick in das Inselleben, und sein nichtexistentes Romanprojekt kommt ihm auf einmal »so einleuchtend, selbstevident, ja: so bereits geschrieben und gelungen« vor (S. 181). »Die Souveränität von Poesie bewährt sich offensichtlich auch bei völliger Abwesenheit jedes poetischen Produkts«, heißt es an einer Stelle (S. 200).

Allmählich wird Walker die Situation, diese »sozusagen fiktive Lage« (S. 201), in die er geraten ist, unheimlich. Nach einem Warnschuss auf seine Wohnung flüchtet er sich auf eine zweimonatige Asien-Reise und kommt erst zum Beginn der Kulturwoche zurück, die ein voller Erfolg wird.

Dem Rückfall in den Alltag versucht Walker zu begegnen, indem er sich bei einer vom Magnaten Robert Lee betriebenen Stiftung um ein Stipendium bewirbt, damit er seinen Insel-Roman schreiben kann. Das Exposee muss »den reichsten und mächtigsten Mann Südostasiens« (S. 303) verschrecken: »together the lovers trick the international mafia into a factual confession that the art scene of the small tropical capital is used by them as cover for the systematic laundering of criminal money« (S. 293).

Robert Lee beruft ein Treffen mit Walker ein und bietet ihm eine Million Dollar an, wenn er von seinem literarischen Vorhaben ablässt. Im Gegenzug zerschreddert er die »Queen Mab«-Notizen, die er für das Roman-Manuskript hält: »Ziemlich schmal für einen Roman, finde ich. Kurze Abschnitte. Experimentell, was?« (S. 321) Beim Abschied warnt er Walker: »I hear one more word about this novel, and you [...] are dead.« (S. 322)

Dem plötzlichen Millionär ist diese Wendung seines Schicksals sehr recht. Er entschließt sich, nach New York zu gehen und das Erpressungsgeld in Immobilien zu investieren. »Seine Unschuld und sein Sinn für Poesie« haben Walker die Erzählung überleben lassen (S. 334). Das Geheimnis um das umtriebige Inselleben bleibt aber gewahrt: »Walkers Gleichung [enthielt] eine Unbekannte mehr, als er wußte oder jemals erfahren würde« (S. 337).

In seinen letzten Notizen sucht Walker nach einer Erklärung »sowohl für das Julianen- als auch das Kulturphänomen« (S. 290). »Poesie ist vom Leben aus nicht beobachtbar. Poesie ist nichts. Vielleicht das Nichts. Poesie ist die Null, die das Leben vervielfacht«, notiert er (S. 290) und fabuliert weiter:

»Z sei der Alltag, das Gewöhnliche (darstellungstechnisch als ZEICHEN zu verwenden). K (S) sei KULTUR als gesellschaftliche Organisationsform der SCHÖNHEIT.
Dann gilt: Z x K (S) = 0. Daraus folgt aber: K (S) = 0 (Walkers Gleichung).« (S. 291f.)

Der nichtgeschriebene Roman als »Resultat der vollendeten Kritik der weltwissenschaftlichen Daten« stellt die im Novalis-Motto beschriebene »höchste Antinomie« auf.

* * *



Bibliografische Angaben

Stephan Wackwitz: Walkers Gleichung. Eine deutsche Erzählung aus den Tropen. Göttingen: Steidl Verlag 1996. 339 Seiten.



 


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Letzte Änderung am 02.12.2003.
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