[31. Absatz]
»Ein Verkündiger der Natur zu sein, ist ein
schönes und heiliges Amt«, sagte der Lehrer.
»Nicht der bloße Umfang und Zusammenhang der
Kenntnisse, nicht die Gabe, diese Kenntnisse
leicht und rein an bekannte Begriffe und
Erfahrungen anzuknüpfen, und die eigentümlichen
fremd klingenden Worte mit gewöhnlichen Ausdrücken
zu vertauschen, selbst nicht die Geschicklichkeit
einer reichen Einbildungskraft, die
Naturerscheinungen in leicht faßliche und treffend
beleuchtete Gemälde zu ordnen, die entweder durch
den Reiz der Zusammenstellung und den Reichtum des
Inhalts die Sinne spannen und befriedigen, oder
den Geist durch eine tiefe Bedeutung entzücken,
alles dies macht noch nicht das echte Erfordernis
eines Naturkündigers aus. Wem es um etwas anders
zu tun ist, als um die Natur, dem ist es
vielleicht genug, aber wer eine innige Sehnsucht
nach der Natur spürt, wer in ihr alles sucht, und
gleichsam ein empfindliches Werkzeug ihres
geheimen Tuns ist, der wird nur den für seinen
Lehrer und für den Vertrauten der Natur erkennen,
der mit Andacht und Glauben von ihr spricht,
dessen Reden die wunderbare, unnachahmliche
Eindringlichkeit und Unzertrennlichkeit haben,
durch die sich wahre Evangelia, wahre Eingebungen
ankündigen. Die ursprünglich günstige Anlage eines
solchen natürlichen Gemüts muß durch unablässigen
Fleiß von Jugend auf, durch Einsamkeit und
Stillschweigen, weil vieles Reden sich nicht mit
der steten Aufmerksamkeit verträgt, die ein
solcher anwenden muß, durch kindliches,
bescheidnes Wesen und unermüdliche Geduld
unterstützt und ausgebildet sein. Die Zeit läßt
sich nicht bestimmen, wie bald einer ihrer
Geheimnisse teilhaftig wird. Manche Beglückte
gelangten früher, manche erst im hohen Alter dazu.
Ein wahrer Forscher wird nie alt, jeder ewige
Trieb ist außer dem Gebiete der Lebenszeit, und je
mehr die äußere Hülle verwittert, desto heller und
glänzender und mächtiger wird der Kern. Auch
haftet diese Gabe nicht an äußerer Schönheit, oder
Kraft, oder Einsicht, oder irgendeinem
menschlichen Vorzug. In allen Ständen, unter jedem
Alter und Geschlecht, in allen Zeitaltern und
unter jedem Himmelsstriche hat es Menschen
gegeben, die von der Natur zu ihren Lieblingen
ausersehn und durch inneres Empfängnis beglückt
waren. Oft schienen diese Menschen einfältiger und
ungeschickter zu sein, als andere, und blieben ihr
ganzes Leben hindurch in der Dunkelheit des großen
Haufens. Es ist sogar als eine rechte Seltenheit
zu achten, wenn man das wahre Naturverständnis bei
großer Beredsamkeit, Klugheit, und einem
prächtigen Betragen findet, da es gemeiniglich die
einfachen Worte, den geraden Sinn, und ein
schlichtes Wesen hervorbringt oder begleitet. In
den Werkstätten der Handwerker und Künstler, und
da, wo die Menschen in vielfältigem Umgang und
Streit mit der Natur sind, als da ist beim
Ackerbau, bei der Schiffahrt, bei der Viehzucht,
bei den Erzgruben, und so bei vielen andern
Gewerben, scheint die Entwickelung dieses Sinns am
leichtesten und öftersten stattzufinden. Wenn jede
Kunst in der Erkenntnis der Mittel, einen
gesuchten Zweck zu erreichen, eine bestimmte
Wirkung und Erscheinung hervorzubringen, und in
der Fertigkeit, diese Mittel zu wählen und
anzuwenden, besteht, so muß derjenige, der den
innern Beruf fühlt, das Naturverständnis mehreren
Menschen gemein zu machen, diese Anlage in den
Menschen vorzüglich zu entwickeln, und zu pflegen,
zuerst auf die natürlichen Anlässe dieser
Entwicklung sorgfältig zu achten und die Grundzüge
dieser Kunst der Natur abzulegen suchen. Mit Hülfe
dieser erlangten Einsichten wird er sich ein
System der Anwendung dieser Mittel bei jedem
gegebenen Individuum, auf Versuche, Zergliederung
und Vergleichung gegründet, bilden, sich dieses
System bis zur andern Natur aneignen, und dann mit
Enthusiasmus sein belohnendes Geschäft anfangen.
Nur diesen wird man mit Recht einen Lehrer der
Natur nennen können, da jeder andre bloße
Naturalist nur zufällig und sympathetisch, wie ein
Naturerzeugnis selbst, den Sinn für die Natur
erwecken wird.«
(RUB 7991, S. 96–98)
[30. Absatz]
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