[137.–138. Absatz]
»Wie versteht Ihr das, lieber Vater?« sagte
Heinrich. »Kann ein Gegenstand zu überschwenglich
für die Poesie sein?«
»Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht sagen,
für die Poesie, sondern nur für unsere irdischen
Mittel und Werkzeuge. Wenn es schon für einen
einzelnen Dichter nur ein eigentümliches Gebiet
gibt, innerhalb dessen er bleiben muß, um nicht
alle Haltung und den Atem zu verlieren: so gibt es
auch für die ganze Summe menschlicher Kräfte eine
bestimmte Grenze der Darstellbarkeit, über welche
hinaus die Darstellung die nötige Dichtigkeit und
Gestaltung nicht behalten kann, und in ein leeres
täuschendes Unding sich verliert. Besonders als
Lehrling kann man nicht genug sich vor diesen
Ausschweifungen hüten, da eine lebhafte Phantasie
nur gar zu gern nach den Grenzen sich begibt, und
übermütig das Unsinnliche, Übermäßige zu ergreifen
und auszusprechen sucht. Reifere Erfahrung lehrt
erst, jene Unverhältnismäßigkeit der Gegenstände
zu vermeiden, und die Aufspürung des Einfachsten
und Höchsten der Weltweisheit zu überlassen. Der
ältere Dichter steigt nicht höher, als er es
gerade nötig hat, um seinen mannigfaltigen Vorrat
in eine leichtfaßliche Ordnung zu stellen, und
hütet sich wohl, die Mannigfaltigkeit zu
verlassen, die ihm Stoff genug und auch die
nötigen Vergleichspunkte darbietet. Ich möchte
fast sagen, das Chaos muß in jeder Dichtung durch
den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern. Den
Reichtum der Erfindung macht nur eine leichte
Zusammenstellung faßlich und anmutig, dagegen auch
das bloße Ebenmaß die unangenehme Dürre einer
Zahlenfigur hat. Die beste Poesie liegt uns ganz
nahe, und ein gewöhnlicher Gegenstand ist nicht
selten ihr liebster Stoff. Für den Dichter ist die
Poesie an beschränkte Werkzeuge gebunden, und eben
dadurch wird sie zur Kunst. Die Sprache überhaupt
hat ihren bestimmten Kreis. Noch enger ist der
Umfang einer besondern Volkssprache. Durch Übung
und Nachdenken lernt der Dichter seine Sprache
kennen. Er weiß, was er mit ihr leisten kann,
genau, und wird keinen törichten Versuch machen,
sie über ihre Kräfte anzuspannen. Nur selten wird
er alle ihre Kräfte in Einen Punkt zusammen
drängen, denn sonst wird er ermüdend, und
vernichtet selbst die kostbare Wirkung einer
gutangebrachten Kraftäußerung. Auf seltsame
Sprünge richtet sie nur ein Gaukler, kein Dichter
ab. Überhaupt können die Dichter nicht genug von
den Musikern und Malern lernen. In diesen Künsten
wird es recht auffallend, wie nötig es ist,
wirtschaftlich mit den Hülfsmitteln der Kunst
umzugehn, und wie viel auf geschickte Verhältnisse
ankommt. Dagegen könnten freilich jene Künstler
auch von uns die poetische Unabhängigkeit und den
innern Geist jeder Dichtung und Erfindung, jedes
echten Kunstwerks überhaupt, dankbar annehmen. Sie
sollen poetischer und wir musikalischer und
malerischer sein – beides nach der Art und Weise
unserer Kunst. Der Stoff ist nicht der Zweck der
Kunst, aber die Ausführung ist es. Du wirst selbst
sehen, welche Gesänge dir am besten geraten, gewiß
die, deren Gegenstände dir am geläufigsten und
gegenwärtigsten sind. Daher kann man sagen, daß
die Poesie ganz auf Erfahrung beruht. Ich weiß
selbst, daß mir in jungen Jahren ein Gegenstand
nicht leicht zu entfernt und zu unbekannt sein
konnte, den ich nicht am liebsten besungen hätte.
Was wurde es? ein leeres, armseliges Wortgeräusch,
ohne einen Funken wahrer Poesie. Daher ist auch
ein Märchen eine sehr schwierige Aufgabe, und
selten wird ein junger Dichter sie gut lösen.«
(RUB 8939, S. 115–117)
[136. Absatz]
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