[115. Absatz]
Heinrich war erhitzt, und nur spät gegen Morgen
schlief er ein. In wunderliche Träume flossen die
Gedanken seiner Seele zusammen. Ein tiefer blauer
Strom schimmerte aus der grünen Ebene herauf. Auf
der glatten Fläche schwamm ein Kahn. Mathilde saß
und ruderte. Sie war mit Kränzen geschmückt, sang
ein einfaches Lied, und sah nach ihm mit süßer
Wehmut herüber. Seine Brust war beklommen. Er
wußte nicht warum. Der Himmel war heiter, die Flut
ruhig. Ihr himmlisches Gesicht spiegelte sich in
den Wellen. Auf einmal fing der Kahn an sich
umzudrehen. Er rief ihr ängstlich zu. Sie lächelte
und legte das Ruder in den Kahn, der sich
immerwährend drehte. Eine ungeheure Bangigkeit
ergriff ihn. Er stürzte sich in den Strom; aber er
konnte nicht fort, das Wasser trug ihn. Sie
winkte, sie schien ihm etwas sagen zu wollen, der
Kahn schöpfte schon Wasser; doch lächelte sie mit
einer unsäglichen Innigkeit, und sah heiter in den
Wirbel hinein. Auf einmal zog es sie hinunter.
Eine leise Luft strich über den Strom, der ebenso
ruhig und glänzend floß, wie vorher. Die
entsetzliche Angst raubte ihm das Bewußtsein. Das
Herz schlug nicht mehr. Er kam erst zu sich, als
er sich auf trocknem Boden fühlte. Er mochte weit
geschwommen sein. Es war eine fremde Gegend. Er
wußte nicht wie ihm geschehen war. Sein Gemüt war
verschwunden. Gedankenlos ging er tiefer ins Land.
Entsetzlich matt fühlte er sich. Eine kleine
Quelle kam aus einem Hügel, sie tönte wie lauter
Glocken. Mit der Hand schöpfte er einige Tropfen
und netzte seine dürren Lippen. Wie ein banger
Traum lag die schreckliche Begebenheit hinter ihm.
Immer weiter und weiter ging er, Blumen und Bäume
redeten ihn an. Ihm wurde so wohl und heimatlich
zu Sinne. Da hörte er jenes einfache Lied wieder.
Er lief den Tönen nach. Auf einmal hielt ihn
jemand am Gewande zurück. »Lieber Heinrich«, rief
eine bekannte Stimme. Er sah sich um, und Mathilde
schloß ihn in ihre Arme. »Warum liefst du vor mir,
liebes Herz«, sagte sie tiefatmend. »Kaum konnte
ich dich einholen.« Heinrich weinte. Er drückte
sie an sich. – »Wo ist der Strom?« rief er mit
Tränen. »Siehst du nicht seine blauen Wellen über
uns?« Er sah hinauf, und der blaue Strom floß
leise über ihrem Haupte. »Wo sind wir, liebe
Mathilde?« »Bei unsern Eltern.« »Bleiben wir
zusammen?« »Ewig«, versetzte sie, indem sie ihre
Lippen an die seinigen drückte, und ihn so
umschloß, daß sie nicht wieder von ihm konnte. Sie
sagte ihm ein wunderbares geheimes Wort in den
Mund, was sein ganzes Wesen durchklang. Er wollte
es wiederholen, als sein Großvater rief, und er
aufwachte. Er hätte sein Leben darum geben mögen,
das Wort noch zu wissen.
(RUB 8939, S. 106–107)
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