[105. Absatz]
Heinrich blieb bei Mathilden. Eine junge Verwandte
setzte sich zu seiner Linken, und Klingsohr saß
ihm gerade gegenüber. So wenig Mathilde sprach, so
gesprächig war Veronika, seine andere Nachbarin.
Sie tat gleich mit ihm vertraut und machte ihn in
kurzem mit allen Anwesenden bekannt. Heinrich
verhörte manches. Er war noch bei seiner Tänzerin,
und hätte sich gern öfters rechts gewandt.
Klingsohr machte ihrem Plaudern ein Ende. Er
fragte ihn nach dem Bande mit sonderbaren Figuren,
was Heinrich an seinem Leibrocke befestigt hatte.
Heinrich erzählte von der Morgenländerin mit
vieler Rührung. Mathilde weinte, und Heinrich
konnte nun seine Tränen kaum verbergen. Er geriet
darüber mit ihr ins Gespräch. Alle unterhielten
sich; Veronika lachte und scherzte mit ihren
Bekannten. Mathilde erzählte ihm von Ungarn, wo
ihr Vater sich oft aufhielt, und von dem Leben in
Augsburg. Alle waren vergnügt. Die Musik
verscheuchte die Zurückhaltung und reizte alle
Neigungen zu einem muntern Spiel. Blumenkörbe
dufteten in voller Pracht auf dem Tische, und der
Wein schlich zwischen den Schüsseln und Blumen
umher, schüttelte seine goldnen Flügel und stellte
bunte Tapeten zwischen die Welt und die Gäste.
Heinrich begriff erst jetzt, was ein Fest sei.
Tausend frohe Geister schienen ihm um den Tisch zu
gaukeln, und in stiller Sympathie mit den
fröhlichen Menschen von ihren Freuden zu leben und
mit ihren Genüssen sich zu berauschen. Der
Lebensgenuß stand wie ein klingender Baum voll
goldener Früchte vor ihm. Das Übel ließ sich nicht
sehen, und es dünkte ihm unmöglich, daß je die
menschliche Neigung von diesem Baume zu der
gefährlichen Frucht des Erkenntnisses, zu dem
Baume des Krieges sich gewendet haben sollte. Er
verstand nun den Wein und die Speisen. Sie
schmeckten ihm überaus köstlich. Ein himmlisches
Öl würzte sie ihm, und aus dem Becher funkelte die
Herrlichkeit des irdischen Lebens. Einige Mädchen
brachten dem alten Schwaning einen frischen Kranz.
Er setzte ihn auf, küßte sie, und sagte: »Auch
unserm Freund Klingsohr müßt ihr einen bringen,
wir wollen beide zum Dank euch ein paar neue
Lieder lehren. Das meinige sollt ihr gleich
haben.« Er gab der Musik ein Zeichen, und sang mit
lauter Stimme:
Sind wir nicht geplagte Wesen?
Ist nicht unser Los betrübt?
Nur zu Zwang und Not erlesen
In Verstellung nur geübt,
Dürfen selbst nicht unsre Klagen
Sich aus unserm Busen wagen.
Allem was die Eltern sprechen,
Widerspricht das volle Herz.
Die verbotne Frucht zu brechen
Fühlen wir der Sehnsucht Schmerz;
Möchten gern die süßen Knaben
Fest an unserm Herzen haben.
Wäre dies zu denken Sünde?
Zollfrei sind Gedanken doch.
Was bleibt einem armen Kinde
Außer süßen Träumen noch?
Will man sie auch gern verbannen,
Nimmer ziehen sie von dannen.
Wenn wir auch des Abends beten,
Schreckt uns doch die Einsamkeit,
Und zu unsern Küssen treten
Sehnsucht und Gefälligkeit.
Könnten wir wohl widerstreben
Alles, alles hinzugeben?
Unsere Reize zu verhüllen
Schreibt die strenge Mutter vor.
Ach! was hilft der gute Willen,
Quellen sie nicht selbst empor?
Bei der Sehnsucht innrem Beben
Muß das beste Band sich geben.
Jede Neigung zu verschließen,
Hart und kalt zu sein, wie Stein,
Schöne Augen nicht zu grüßen,
Fleißig und allein zu sein,
Keiner Bitte nachzugeben:
Heißt das wohl ein Jugendleben?
Groß sind eines Mädchens Plagen,
Ihre Brust ist krank und wund,
Und zum Lohn für stille Klagen
Küßt sie noch ein welker Mund.
Wird denn nie das Blatt sich wenden,
Und das Reich der Alten enden?
(RUB 8939, S. 99–101)
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