[87. Absatz]
Der Einsiedler zeigte ihnen seine Bücher. Es waren
alte Historien und Gedichte. Heinrich blätterte in
den großen schöngemalten Schriften; die kurzen
Zeilen der Verse, die Überschriften, einzelne
Stellen, und die saubern Bilder, die hier und da,
wie verkörperte Worte, zum Vorschein kamen, um die
Einbildungskraft des Lesers zu unterstützen,
reizten mächtig seine Neugierde. Der Einsiedler
bemerkte seine innere Lust, und erklärte ihm die
sonderbaren Vorstellungen. Die mannigfaltigsten
Lebensszenen waren abgebildet. Kämpfe,
Leichenbegängnisse, Hochzeitfeierlichkeiten,
Schiffbrüche, Höhlen und Paläste; Könige, Helden,
Priester, alte und junge Leute, Menschen in
fremden Trachten, und seltsame Tiere, kamen in
verschiedenen Abwechselungen und Verbindungen vor.
Heinrich konnte sich nicht satt sehen, und hätte
nichts mehr gewünscht, als bei dem Einsiedler, der
ihn unwiderstehlich anzog, zu bleiben, und von ihm
über diese Bücher unterrichtet zu werden. Der Alte
fragte unterdes, ob es noch mehr Höhlen gäbe, und
der Einsiedler sagte ihm, daß noch einige sehr
große in der Nähe lägen, wohin er ihn begleiten
wollte. Der Alte war dazu bereit, und der
Einsiedler, der die Freude merkte, die Heinrich an
seinen Büchern hatte, veranlaßte ihn,
zurückzubleiben, und sich während dieser Zeit
weiter unter denselben umzusehn. Heinrich blieb
mit Freuden bei den Büchern, und dankte ihm innig
für seine Erlaubnis. Er blätterte mit unendlicher
Lust umher. Endlich fiel ihm ein Buch in die
Hände, das in einer fremden Sprache geschrieben
war, die ihm einige Ähnlichkeit mit der
lateinischen und italienischen zu haben schien. Er
hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen,
denn das Buch gefiel ihm vorzüglich ohne daß er
eine Silbe davon verstand. Es hatte keinen Titel,
doch fand er noch beim Suchen einige Bilder. Sie
dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er
recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt
ziemlich kenntlich unter den Figuren. Er erschrak
und glaubte zu träumen, aber beim wiederholten
Ansehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen
Ähnlichkeit zweifeln. Er traute kaum seinen
Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle, den
Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte.
Allmählich fand er auf den andern Bildern die
Morgenländerin, seine Eltern, den Landgrafen und
die Landgräfin von Thüringen, seinen Freund den
Hofkaplan, und manche andere seiner Bekannten;
doch waren ihre Kleidungen verändert und schienen
aus einer andern Zeit zu sein. Eine große Menge
Figuren wußte er nicht zu nennen, doch deuchten
sie ihm bekannt. Er sah sein Ebenbild in
verschiedenen Lagen. Gegen das Ende kam er sich
größer und edler vor. Die Gitarre ruhte in seinen
Armen, und die Landgräfin reichte ihm einen Kranz.
Er sah sich am kaiserlichen Hofe, zu Schiffe, in
trauter Umarmung mit einem schlanken lieblichen
Mädchen, in einem Kampfe mit wildaussehenden
Männern, und in freundlichen Gesprächen mit
Sarazenen und Mohren. Ein Mann von ernstem Ansehn
kam häufig in seiner Gesellschaft vor. Er fühlte
tiefe Ehrfurcht vor dieser hohen Gestalt, und war
froh sich Arm in Arm mit ihm zu sehn. Die letzten
Bilder waren dunkel und unverständlich; doch
überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes
mit dem innigsten Entzücken; der Schluß des Buches
schien zu fehlen. Heinrich war sehr bekümmert, und
wünschte nichts sehnlicher, als das Buch lesen zu
können, und vollständig zu besitzen. Er
betrachtete die Bilder zu wiederholten Malen und
war bestürzt, wie er die Gesellschaft zurückkommen
hörte. Eine wunderliche Scham befiel ihn. Er
getraute sich nicht, seine Entdeckung merken zu
lassen, machte das Buch zu, und fragte den
Einsiedler nur obenhin nach dem Titel und der
Sprache desselben, wo er denn erfuhr, daß es in
provenzalischer Sprache geschrieben sei. »Es ist
lange, daß ich es gelesen habe«, sagte der
Einsiedler. »Ich kann mich nicht genau mehr des
Inhalts entsinnen. So viel ich weiß, ist es ein
Roman von den wunderbaren Schicksalen eines
Dichters, worin die Dichtkunst in ihren
mannigfachen Verhältnissen dargestellt und
gepriesen wird. Der Schluß fehlt an dieser
Handschrift, die ich aus Jerusalem mitgebracht
habe, wo ich sie in der Verlassenschaft eines
Freundes fand, und zu seinem Andenken aufhob.«
(RUB 8939, S. 90–92)
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