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Sie drehte sich nach ihnen zu, stand auf und ging
ihnen entgegen. Es war ein Mann, dessen Alter man
nicht erraten konnte. Er sah weder alt noch jung
aus, keine Spuren der Zeit bemerkte man an ihm,
als schlichte silberne Haare, die auf der Stirn
gescheitelt waren. In seinen Augen lag eine
unaussprechliche Heiterkeit, als sähe er von einem
hellen Berge in einen unendlichen Frühling hinein.
Er hatte Sohlen an die Füße gebunden, und schien
keine andere Kleidung zu haben, als einen weiten
Mantel, der um ihn hergeschlungen war, und seine
edle große Gestalt noch mehr heraus hob. Über ihre
unvermutete Ankunft schien er nicht im mindesten
verwundert; wie ein Bekannter begrüßte er sie. Es
war, als empfing er erwartete Gäste in seinem
Wohnhause. »Es ist doch schön, daß ihr mich
besucht«, sagte er; »ihr seid die ersten Freunde,
die ich hier sehe, so lange ich auch schon hier
wohne. Scheint es doch, als finge man an, unser
großes wunderbares Haus genauer zu betrachten.«
Der Alte erwiderte: »Wir haben nicht vermutet,
einen so freundlichen Wirt hier zu finden. Von
wilden Tieren und Geistern war uns erzählt, und
nun sehen wir uns auf das anmutigste getäuscht.
Wenn wir Euch in Eurer Andacht und in Euren
tiefsinnigen Betrachtungen gestört haben: so
verzeiht es unserer Neugierde.« – »Könnte eine
Betrachtung erfreulicher sein«, sagte der
Unbekannte, »als die froher uns zusagender
Menschengesichter? Haltet mich nicht für einen
Menschenfeind, weil ihr mich in dieser Einöde
trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, sondern
ich habe nur eine Ruhestätte gesucht, wo ich
ungestört meinen Betrachtungen nachhängen könnte.«
– »Hat Euch Euer Entschluß nie gereut, und kommen
nicht zuweilen Stunden, wo Euch bange wird und
Euer Herz nach einer Menschenstimme verlangt?« –
»Jetzt nicht mehr. Es war eine Zeit in meiner
Jugend, wo eine heiße Schwärmerei mich veranlaßte,
Einsiedler zu werden. Dunkle Ahndungen
beschäftigten meine jugendliche Phantasie. Ich
hoffte volle Nahrung meines Herzens in der
Einsamkeit zu finden. Unerschöpflich dünkte mir
die Quelle meines innern Lebens. Aber ich merkte
bald, daß man eine Fülle von Erfahrungen dahin
mitbringen muß, daß ein junges Herz nicht allein
sein kann, ja daß der Mensch erst durch vielfachen
Umgang mit seinem Geschlecht eine gewisse
Selbstständigkeit erlangt.«
(RUB 8939, S. 79–80)
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