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Aquarium > Das Werk > Heinrich von Ofterdingen (1799–1800) > [69. Absatz]


[69. Absatz]

Sie drehte sich nach ihnen zu, stand auf und ging ihnen entgegen. Es war ein Mann, dessen Alter man nicht erraten konnte. Er sah weder alt noch jung aus, keine Spuren der Zeit bemerkte man an ihm, als schlichte silberne Haare, die auf der Stirn gescheitelt waren. In seinen Augen lag eine unaussprechliche Heiterkeit, als sähe er von einem hellen Berge in einen unendlichen Frühling hinein. Er hatte Sohlen an die Füße gebunden, und schien keine andere Kleidung zu haben, als einen weiten Mantel, der um ihn hergeschlungen war, und seine edle große Gestalt noch mehr heraus hob. Über ihre unvermutete Ankunft schien er nicht im mindesten verwundert; wie ein Bekannter begrüßte er sie. Es war, als empfing er erwartete Gäste in seinem Wohnhause. »Es ist doch schön, daß ihr mich besucht«, sagte er; »ihr seid die ersten Freunde, die ich hier sehe, so lange ich auch schon hier wohne. Scheint es doch, als finge man an, unser großes wunderbares Haus genauer zu betrachten.« Der Alte erwiderte: »Wir haben nicht vermutet, einen so freundlichen Wirt hier zu finden. Von wilden Tieren und Geistern war uns erzählt, und nun sehen wir uns auf das anmutigste getäuscht. Wenn wir Euch in Eurer Andacht und in Euren tiefsinnigen Betrachtungen gestört haben: so verzeiht es unserer Neugierde.« – »Könnte eine Betrachtung erfreulicher sein«, sagte der Unbekannte, »als die froher uns zusagender Menschengesichter? Haltet mich nicht für einen Menschenfeind, weil ihr mich in dieser Einöde trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, sondern ich habe nur eine Ruhestätte gesucht, wo ich ungestört meinen Betrachtungen nachhängen könnte.« – »Hat Euch Euer Entschluß nie gereut, und kommen nicht zuweilen Stunden, wo Euch bange wird und Euer Herz nach einer Menschenstimme verlangt?« – »Jetzt nicht mehr. Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine heiße Schwärmerei mich veranlaßte, Einsiedler zu werden. Dunkle Ahndungen beschäftigten meine jugendliche Phantasie. Ich hoffte volle Nahrung meines Herzens in der Einsamkeit zu finden. Unerschöpflich dünkte mir die Quelle meines innern Lebens. Aber ich merkte bald, daß man eine Fülle von Erfahrungen dahin mitbringen muß, daß ein junges Herz nicht allein sein kann, ja daß der Mensch erst durch vielfachen Umgang mit seinem Geschlecht eine gewisse Selbstständigkeit erlangt.«

(RUB 8939, S. 79–80)

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Letzte Änderung am 04.02.2002.
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