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Der Fremdling

Den 22. Jänner 1797 [1798]
Der Frau Bergrätin von Charpentier gewidmet

Müde bist du und kalt, Fremdling, du scheinest nicht
Dieses Himmels gewohnt – warmere Lüfte wehn
    Deiner Heimat und freier
  Hob sich vormals die junge Brust.

Streute ewiger Lenz dort nicht auf stiller Flur
Buntes Leben umher? spann nicht der Frieden dort
    Feste Weben? und blühte
  Dort nicht ewig, was einmal wuchs?

O! du suchest umsonst – untergegangen ist
Jenes himmlische Land – keiner der Sterblichen
    Weiß den Pfad, den auf immer
  Unzugängliches Meer verhüllt.

Wenig haben sich nur deines verwandten Volks
Noch entrissen der Flut – hierhin und dorthin sind
    Sie gesäet und erwarten
   Beßre Zeiten des Wiedersehns.

Folge willig mir nach – wahrlich ein gut Geschick
Hat hieher dich geführt – Heimatsgenossen sind
    Hier, die eben, im Stillen,
  Heut ein häusliches Fest begehn.

Unverkennbar erscheint dort dir die innige
Herzenseinheit – es strahlt Unschuld und Liebe dir
    Klar von allen Gesichtern,
  Wie vorzeiten im Vaterland.

Lichter hebt sich dein Blick – wahrlich, der Abend wird,
Wie ein freundlicher Traum, schnell dir vorübergehn,
    Wenn in süßem Gespräche
  Sich dein Herz bei den Guten löst –

Seht – der Fremdling ist hier – der aus demselben Land
Sich verbannt fühlt, wie Ihr; traurige Stunden sind
    Ihm geworden – es neigte
  Früh der fröhliche Tag sich ihm.

Doch er weilet noch gern, wo er Genossen trifft,
Feiert munter das Fest häuslicher Freuden mit;
    Ihn entzücket der Frühling,
  Der so frisch um die Eltern blüht.

Daß das heutige Fest oft noch zurückekehrt,
Eh den Weinenden sich ungern die Mutter raubt
    Und auf nächtlichen Pfaden
  Folgt dem Führer ins Vaterland –

Daß der Zauber nicht weicht, welcher das Band beglückt
Eures Bundes – und daß auch die Entfernteren
    Des genießen, und wandern
  Einen fröhlichen Weg mit Euch –

Dieses wünschet der Gast – aber der Dichter sagts
Euch für ihn; denn er schweigt gern, wenn er freudig ist,
    Und er sehnet so eben
  Seine fernen Geliebten her.

Bleibt dem Fremdlinge hold – spärliche Freuden sind
Ihm hienieden gezählt – doch bei so freundlichen
    Menschen sieht er geduldig
  Nach dem großen Geburtstag hin.

(RUB 7991, S. 54-55)

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Letzte Änderung am 10.03.1999.
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