[20. Absatz]
Nun wollen wir uns zu dem politischen
Schauspiel unsrer Zeit wenden. Alte und
neue Welt sind in Kampf begriffen, die
Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der
bisherigen Staatseinrichtungen sind in
furchtbaren Phänomenen offenbar geworden.
Wie wenn auch hier wie in den
Wissenschaften eine nähere und
mannigfaltigere Konnexion und Berührung
der europäischen Staaten zunächst der
historische Zweck des Krieges wäre, wenn
eine neue Regung des bisher schlummernden
Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder
erwachen wollte, wenn ein Staat der
Staaten, eine politische
Wissenschaftslehre, uns bevorstände!
Sollte etwa die Hierarchie diese
symmetrische Grundfigur der Staaten, das
Prinzip des Staatenvereins als
intellektuale Anschauung des politischen
Ichs sein? Es ist unmöglich daß weltliche
Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht
setzen, ein drittes Element, das weltlich
und überirdisch zugleich ist, kann allein
diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden
Mächten kann kein Friede geschlossen
werden, aller Friede ist nur Illusion, nur
Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der
Kabinetter, des gemeinen Bewußtseins ist
keine Vereinigung denkbar. Beide Teile
haben große, notwendige Ansprüche und
müssen sie machen, getrieben vom Geiste
der Welt und der Menschheit. Beide sind
unvertilgbare Mächte der Menschenbrust;
hier die Andacht zum Altertum, die
Anhänglichkeit an die geschichtliche
Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der
Altväter und der alten glorreichen
Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams;
dort das entzückende Gefühl der Freiheit,
die unbedingte Erwartung mächtiger
Wirkungskreise, die Lust am Neuen und
Jungen, die zwanglose Berührung mit allen
Staatsgenossen, der Stolz auf menschliche
Allgemeingültigkeit, die Freude am
persönlichen Recht und am Eigentum des
Ganzen, und das kraftvolle Bürgergefühl.
Keine hoffe die andere zu vernichten, alle
Eroberungen wollen hier nichts sagen, denn
die innerste Hauptstadt jedes Reichs liegt
nicht hinter Erdwällen und läßt sich nicht
erstürmen.
(RUB 8030, S. 85–86)
[19. Absatz]
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