[15. Absatz]
Von den übrigen europäischen Ländern,
außer Deutschland, läßt sich nur
prophezeien, daß mit dem Frieden
ein neues höheres religiöses Leben in
ihnen zu pulsieren [beginnen] und bald
alles andere weltliche Interesse
verschlingen wird. In Deutschland hingegen
kann man schon mit voller Gewißheit die
Spuren einer neuen Welt aufzeigen.
Deutschland geht einen langsamen aber
sichern Gang vor den übrigen europäischen
Ländern voraus. Während diese durch Krieg,
Spekulation und Partei-Geist beschäftigt
sind, bildet sich der Deutsche mit allem
Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der
Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein
großes Übergewicht über die andere[n] im
Lauf der Zeit geben. In Wissenschaften und
Künsten wird man eine gewaltige Gärung
gewahr. Unendlich viel Geist wird
entwickelt. Aus neuen, frischen Fundgruben
wird gefördert. Nie waren die
Wissenschaften in besseren Händen, und
erregten wenigstens größere Erwartungen;
die verschiedensten Seiten der Gegenstände
werden ausgespürt, nichts wird
ungerüttelt, unbeurteilt, undurchsucht
gelassen. Alles wird bearbeitet; die
Schriftsteller werden eigentümlicher und
gewaltiger, jedes alte Denkmal der
Geschichte, jede Kunst, jede Wissenschaft
findet Freunde, und wird mit neuer Liebe
umarmt und fruchtbar gemacht. Eine
Vielseitigkeit ohnegleichen, eine
wunderbare Tiefe, eine glänzende Politur,
vielumfassende Kenntnisse und eine reiche
kräftige Phantasie findet man hie und da,
und oft kühn gepaart. Eine gewaltige
Ahndung der schöpferischen Willkür, der
Grenzenlosigkeit, der unendlichen
Mannigfaltigkeit, der heiligen
Eigentümlichkeit und der Allfähigkeit der
innern Menschheit scheint überall rege zu
werden. Aus dem Morgentraum der
unbehülflichen Kindheit erwacht, übt ein
Teil des Geschlechts seine ersten Kräfte
an Schlangen, die seine Wiege umschlingen
und den Gebrauch seiner Gliedmaßen ihm
benehmen wollen. Noch sind alles nur
Andeutungen, unzusammenhängend und roh,
aber sie verraten dem historischen Auge
eine universelle Individualität, eine neue
Geschichte, eine neue Menschheit, die
süßeste Umarmung einer jungen überraschten
Kirche und eines liebenden Gottes, und das
innige Empfängnis eines neuen Messias in
ihren tausend Gliedern zugleich. Wer fühlt
sich nicht mit süßer Scham guter Hoffnung?
Das Neugeborne wird das Abbild seines
Vaters, eine neue goldne Zeit mit dunkeln
unendlichen Augen, eine prophetische
wundertätige und wundenheilende, tröstende
und ewiges Leben entzündende Zeit sein
eine große Versöhnungszeit, ein
Heiland, der wie ein echter Genius unter
den Menschen einheimisch, nur geglaubt
nicht gesehen werden [kann], und unter
zahllosen Gestalten den Gläubigen
sichtbar, als Brot und Wein, verzehrt, als
Geliebte umarmt, als Luft geatmet, als
Wort und Gesang vernommen, und mit
himmlischer Wollust, als Tod, unter den
höchsten Schmerzen der Liebe, in das Innre
des verbrausenden Leibes aufgenommen
wird.
(RUB 8030, S. 81–83)
[14. Absatz]
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